2020 erschien ein ungewöhnliches Buch Wie ich zum Mann wurde: Ein Leben mit Kommunisten, Atheisten und anderen netten Menschen. Die erste Auflage war in wenigen Wochen vergriffen. Der Autor ist katholischer Priester im Erzbistum Köln: Sohn eines russischen Vaters und einer deutschen Mutter verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion und betrat erst mit 20 Jahren erstmals eine katholische Kirche.
Alexander Krylovs Vita ist beeindruckend: Er studiert Geschichte und Ökonomie, arbeitet als Lehrer, leitet die Jugendarbeit seiner Stadt. Dann wird er Manager einer Konzertfirma in Moskau, die große Veranstaltungen organisiert. Später wendet er sich der Wissenschaft zu, promoviert und wird mit 30 Jahren Prodekan am National Institute of Business in Moskau. Im Jahre 2000 wird Krylov deutscher Staatsbürger und arbeitet im Institut für Weltwirtschaft und Internationales Management der Uni Bremen. 2008 bekommt er eine Professur an der University of Management and Communication Potsdam und wird Direktor des West-Ost-Instituts Berlin.
„Auch wenn mein Berufsleben bunt und vielseitig scheinen mag, stellte sich im Nachhinein heraus, dass es ein kontinuierlicher Weg von einem Beruf zu einer Berufung war,“ sagte Krylov. 2011 tritt er ins Kölner Priesterseminar ein, studiert Theologie und wird 2016 zum Priester geweiht. Er wundert sich, dass es in der Kirche Menschen gibt, die um Macht und Karriere kämpfen. Dafür gibt es genug Möglichkeiten in Wirtschaft und Politik.
Im Folgenden ein Gespräch mit dem außergewöhnlichen Mann.
Sie waren wissenschaftlich tätig. Vor zehn Jahren änderten Sie Ihr Leben vollständig und gingen ins Priesterseminar. Warum brechen Sie Ihr Schweigen darüber erst jetzt?
Alexander Krylov: Tatsächlich versuchte ich damals meinen Eintritt in das Priesterseminar nicht an die große Glocke zu hängen und wollte damit eine unnötige Berichterstattung über einen „alles opfernden Wissenschaftler“ vermeiden. Priester zu werden, ist zum Glück noch keine Heldentat. Ich bin meiner priesterlichen Berufung nachgegangen und habe mein Leben damit noch schöner und sinnvoller gemacht. Jeder Verliebte freut sich, wenn er aus Liebe zu einer anderen Person auf etwas verzichten kann. So brachte auch mir dieser Wechsel vom Beruf zur Berufung bleibende Freude. Für mich ist es kein Thema, das besondere öffentliche Aufmerksamkeit verdient.
Sie haben aber jetzt ein Buch geschrieben, in dem Sie über Ihre Kindheit erzählen. Was hat Sie dazu motiviert?
Krylov: Noch zu der Zeit, als ich an der Uni unterrichtete, habe ich immer wieder mal verschiedene Anekdoten aus dem Leben in der Sowjetunion erzählt und wurde öfter gefragt, warum ich sie nicht aufschreibe. Ich habe darauf immer geantwortet, dass ich noch zu jung bin, um Memoiren zu schreiben. Auch wenn ich in meinem Buch über meine Kindheit erzähle, geht es dort nicht primär um mich, sondern um das Leben und den Glauben in einer autoritären Gesellschaft. Damit das authentisch und bildhaft wird, habe ich dafür meine Person quasi ausgeliehen und meine persönlichen Erfahrungen aufgeschrieben.
Zwischen den Zeilen kann man auch einige der heutigen Probleme erkennen. Ist dieses amüsante Buch gesellschaftskritisch?
Krylov: Ich bekomme tatsächlich viele Rückmeldungen und Briefe von Lesern, die sich selbst, ihre eigene Kindheit und auch unsere aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen im Buch erkennen. Das zeigt, dass das Gute und das Böse auf der Welt universal ist. Ob im Osten oder im Westen brauchen Menschen Liebe und Zuwendung, sie haben Ängste um ihre Existenz und sie freuen sich über kleine Aufmerksamkeiten. Es gibt auch universale Schwächen: Machtgier, den Wunsch, anderen ihr Leben vorzuschreiben und auch die Anfälligkeit gegenüber den Ideologien. Jede Gesellschaft kommt in Gefahr, wenn sie beginnt, Gott durch irgendwelche, auch gute moralische Ideen zu ersetzen.
Sie sprachen in ihrem Buch über den Glauben, der im kommunistischen System verboten war. Wer hat ihn Ihnen vermittelt?
Krylov: Eine wichtige Rolle spielt bei dieser Frage die Familie. Die politischen Repressionen und alle Schwierigkeiten des Lebens konnte unsere Familie nur durch den Glauben ertragen. Ich wurde nicht gezielt zum Glauben erzogen, Gott war einfach immer in unserem Leben präsent. Das versuchte ich in meinem Buch zu zeigen. Ich kenne aber auch viele Menschen aus atheistischen Familien, die ihren Weg zu Gott gefunden haben. Das macht mich zuversichtlich: Wenn jemand die Welt mit offenen Augen wahrnimmt, fragt und sucht, wird er seinen Weg zu Gott finden.
Der Titel Ihres Buches lautet „Wie ich zum Mann wurde“. Was heißt für Sie, zum Mann werden?
Krylov: In meinem Buch geht es um einen Prozess und um den Wunsch, erwachsen zu werden. Nicht die erste Zigarette, nicht die ersten Liebesgefühle und nicht das erste Gehalt machen jemanden erwachsen, sondern das Wahrnehmen der eigenen Verantwortung für sich, für sein Leben, seine Entscheidungen und für seine Nächsten. Der Titel meines Buches spricht auch die damalige politische Situation an, denn jede autoritäre Gesellschaft behandelt ihre Bürger wie unmündige Kinder, sie schreibt vor, was sie denken und wie sie sich verhalten sollen. So kann man eine solche Gesellschaft mit einem Kindergarten vergleichen.
Man spürt, dass Freiheit für Sie besonders wichtig ist…
Krylov: Das stimmt. Es liegt zum einen an meinen Glaubensüberzeugungen und zum anderen an meiner Familie. Denn ich wuchs in einer gewissen Diskrepanz auf. Zuhause erlebte ich hundertprozentiges Vertrauen und alle Freiheit – in der Gesellschaft jedoch bestimmte Spielregeln und Denkverbote. Mein Studium fiel in die Zeit der Perestroika, ich habe für die Freiheit mitgekämpft und bin auch mal auf die Barrikaden gegangen. Als einer, dem Freiheit so wichtig ist, kann ich sagen, dass die echte Freiheit nur bei Gott zu finden ist.
Aus den Medien kann man aber den Eindruck gewinnen, die Kirche habe jahrhundertelang die Freiheit der Menschen begrenzt.
Krylov: Mein erstes Studium war das Studium der Geschichte. Wenn man eine historische Epoche, einen Prozess oder eine Entscheidung verstehen will, muss man versuchen, sie aus der damaligen Situation und ihrer Denkweise heraus zu sehen. Es gab in der Geschichte der Kirche viele dunkle Momente, aber genau die Kirche führte Europa zu Bildung und Fortschritt. Sie prägte unsere Vorstellungen von Freiheit, Verantwortung und Solidarität. Dies aber nicht aus politischen oder anderen Überzeugungen, sondern aus unserem Gottesverständnis. Denn unser Gott ist die Liebe und damit auch die Freiheit. Schauen Sie unsere heutige Gesellschaft an. Verschiedene Aspekte aus unserer katholischen Glaubenspraxis, die verworfen wurden, kommen als säkulare Praktiken zurück. Fasten aus Glaubensüberzeugung gilt als uncool, dafür wird aufgerufen, aus Liebe zur Natur auf Fleisch zu verzichten. Die Beichte gilt als unmodern. Wir erleben aber, wie in der Öffentlichkeit Schuldbekenntnisse und Reue erwartet werden, wenn jemand sich politisch unkorrekt äußert. Über Gott und den Glauben kann man heute im Fernsehen genug Spott erfahren. Dafür gibt es neue Phänomene, die wie „heilig“ behandelt werden, die außerhalb jeglicher Kritik stehen. Die Gebote Gottes und die Gebote der Kirche begrenzen unsere Freiheit nicht, sondern schützen sie.
Finden Sie alles gut, was heute die Kirche macht?
Krylov: Als Wissenschaftler habe ich gelernt, alles differenziert wahrzunehmen. Es ist also wichtig, auch in der Frage der Kirche zu unterscheiden. Es gibt die Heilige Kirche, zu der auch alle Heiligen und alle Seelen im Himmel gehören. Und es gibt viele Personen, die heute auf der Erde für die Kirche arbeiten. Zwischen diesen Personen gibt es, wie überall auf der Welt, Sünder, Machthaber, Intriganten und Karrieristen. Wir haben aber viele, sehr viele Gläubige und Priester, die auch heute heiligmäßig leben. In verschiedenen Begegnungen, im Beichtstuhl und auch im Alltag treffe ich immer wieder Menschen, die man als Vorbilder des Glaubens nehmen kann.
Sie schildern in Ihrem Buch eine Gesellschaft, die Atheismus predigt und doch irgendwie gläubig bleibt. Heute glauben in Europa immer weniger Menschen an Gott. Kann man die Situationen vergleichen? Wird die Kirche diesmal überleben?
Krylov: Die Kirche wird aus einem einfachen Grund überleben. Nicht, weil sie so gut ist und nicht, weil sie alles richtig macht, sondern weil sie von Christus gestiftet wurde. Sorge macht mir nicht die Kirche an sich, sondern die Seelen der Menschen, „die müde und erschöpft sind wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mt 9,36). Damals, in der Sowjetunion, war die Situation für die Gläubigen klarer. Auf der einen Seite standen die Atheisten, auf der anderen beteten im Verborgenen die Gläubigen. Heute, wenn manche Geistliche sagen, dass sie nicht an die Auferstehung glauben, und manche Religionslehrer den Kindern beibringen, die Sakramente nur als symbolische Bilder zu verstehen, ist es für die Menschen viel schwerer, Halt im Glauben zu finden. Wir sprechen so gerne über Strukturen oder Theorien, es geht aber um das Heil der konkreten Menschen.
Sie waren schon Lehrer, Journalist, Manager, Unternehmensberater und Professor. Jetzt sind Sie nicht nur Priester, sondern dazu noch Schriftsteller geworden?
Krylov: Es war für mich sehr überraschend, dass ein Büchlein mit kleinen Geschichten aus dem Leben eines naiven Kindes so positiv von den Lesern aufgenommen wurde. Bis jetzt habe ich nur wissenschaftliche Bücher und Predigten geschrieben und habe sehr gezweifelt, ob ich das Buch Wie ich zum Mann wurde überhaupt veröffentlichen soll. Heute freue ich mich selbstverständlich über die positiven Rückmeldungen; besonders freue ich mich aber, wenn Menschen beginnen, über ihre Glaubensgeschichten nachzudenken und ihre Glaubenszeugnisse weiterzugeben. Denn das Leben eines jeden Menschen ist viel spannender, interessanter und lehrreicher als der beste Abenteuerroman. Seelsorger können das bestätigen.
Das Gespräch führte Christian Dick.
Wie ich zum Mann wurde: Ein Leben mit Kommunisten, Atheisten und anderen netten Menschen. Von Alexander Krylov. fe-medienverlag, 200 Seiten, 10€.