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Wie neue „Rechte“ entstehen

Artikel drucken Europas Menschenrechtsgerichtshof: eine ideologischer Arena (Christof Gaspari)

Die Menschenrechte unterliegen einer Entwicklung. Sie sind keineswegs das feste Bezugssystem, vor dem sich staatliches Handeln zu rechtfertigen hat. Ja, sie haben in den letzten Jahrzehnten eine besorgniserregende Entwicklung genommen, indem sie zum Vehikel der Etablierung eines zerstörerischen Menschenbildes dienten.
 
Zu diesem Ergebnis kommt Grégor Puppinck, der als Jurist und Vertreter des Heiligen Stuhls fast 20 Jahre die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs aus nächster Nähe verfolgt hat. In seinem Buch Der denaturierte Mensch und seine Rechte beschreibt er „den Übergang von den ,Menschenrechten’ des Jahres 1948 über die ,Rechte des Individuums’ der vergangenen zwanzig Jahre bis hin zu den ,transhumanen Rechten’, die momentan im Entstehen sind“.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war vom Rechtspositivismus geprägt: Der Staat dekretiert, was rechtens ist. Welche Verheerungen dieser Zugang anrichten kann, lieferte Nazi-Deutschland. Um die für dessen Gräueltaten Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können, war es nach dem Krieg notwendig, das Geschehen von einer höheren Warte aus zu bewerten. „Die Überwindung des Positivismus besteht in der Rückkehr zur Moral und zum Naturrecht,“ schreibt Puppinck.
Auf diesem Hintergrund kam es 1948 zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“  und  1950 zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie sah die Errichtung eines Europäischen Gerichtshofs vor mit der Kompetenz, über die Staaten zu Gericht zu sitzen.
Die Devise hieß nun: Vorrang der Person vor der Gesellschaft. Keine Einigkeit konnten die Vertragsstaaten bezüglich der Begründung dieses Vorrangs erzielen. Die menschliche Natur sei das Werk Gottes, so lautet das christliche Argument. Dazu Puppinck: „Aus der Beobachtung der menschlichen Natur kann der Gehalt der Menschenrechte abgeleitet werden. Die Beobachtung, dass die Menschenrechte das Leben und die Unversehrtheit der Person, ihre Fähigkeit, eine Familie zu gründen (als Lebewesen), ihre Versammlungs- und Meinungsfreiheit (als soziales Wesen), und zu guter Letzt ihre Gewissensfreiheit (als geistiges Wesen) schützen müssen.“
Diesem Denkmodell steht eine atheistische Alternative gegenüber, die vom Evolutions-Denken geprägt ist. „Der menschliche Geist wäre demnach eine Hervorbringung der Materie, der Höhepunkt eines Evolutionsprozesses, der zu immer neuen Höhen strebt, indem er sich vergeistigt. (…) Wenn Gott nicht existiert, dann bezieht der Mensch aus sich selbst seine Menschenwürde, die dann natürlich um so größer ist, je weiter er im Prozess seiner Spiritualisierung (…) vorangeschritten ist, und die nach oben keine Grenzen kennt.
Es ist spannend zu lesen, wie sich nun im Verlauf der letzten Jahrzehnte die atheistische Sichtweise durchgesetzt und damit den Grundgehalt der Menschenrechte verändert hat. Puppinck illus­triert das anhand von Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EMGR), dessen Entscheidungen vor allem auf die „Befreiung und Souveränität des Individuums“ – so heißt der zweite Teil des Buches – ausgerichtet wurden. Auf diesem Weg entstanden „neue Rechte“: Das Recht, den eigenen Tod herbeizuführen, das Recht, ungeborene Kinder abzutreiben, das Recht, Personen Sterbehilfe zu leis­ten, das Recht auf sexuelle Freiheit, das Recht auf ein Kind…
Auf diese Weise „sind die Menschenrechte allzu oft selbst als veritable trojanische Pferde eingesetzt worden, um in die nationalen Rechtsordnungen einzudringen und eine Ideologie in sie hineinzutragen, die den ursprünglichen Intentionen ihrer Redaktoren von 1948 ganz fremd ist“.
Im dritten Teil des Buches führt der Autor dem Leser vor Augen, wie sich die Entwicklung der Menschenrechte mit den Vorstellungen des Transhumanismus verbünden, also den Weg öffnen für eine „Verbesserung“ menschlicher Qualitäten. Er zeigt etwa, wie die Medizin sich von ihrem ursprünglichen Ziel, nämlich zu heilen, hin zu einem medizinischen Dienstleis­tungssektor entwickelt und wie eugenisches Gedankengut in der Rechtssprechung wieder Fuß fasst. Man denke an „Recht“ auf ein gesundes Kind. So sprach der EMGR einem Ehepaar, das eine Erbkrankheit aufwies, das Recht zu, „ein von dieser Krankheit freies Kind zur Welt zu bringen.“ Im Klartext: Das Kind darf in der Retorte gezeugt und dann durch Präimplantationsdiagnostik ausgewählt werden.
All jenen, die wie ich die längs­te Zeit viel von den Menschenrechten und der internationalen Rechtssprechung gehalten haben, möchte ich die Lektüre dieses Buches sehr ans Herz legen. Es ist ein Augenöffner, begnügt sich aber nicht damit, die vielen Fehlentwicklungen zu beschreiben und zu beklagen. Vielmehr ruft Puppinck im letzten Abschnitt seines Buches dazu auf, nicht zu resignieren, sondern Widerstand zu leisten. Denn eines ist sicher: Auf die Dauer lässt sich die menschliche Natur nicht vergewaltigen. Auch rege sich in letzter Zeit immer mehr Widerstand gegen Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs.
Der härteste Schlag für diesen kam 2015 aus Russ­land, dessen Parlament entschied, „Entscheidungen internationaler Instanzen, die dem russischen Verfassungsrecht widersprechen, für nicht exequierbar zu erklären.“ Ähnliche Initiativen habe es auch in Frankreich gegeben.

Der denaturierte Mensch und seine Rechte. Von Grégor Puppinck. Be+Be-Verlag, 275 Seiten, 21,90€.

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