Rund 60 Prozent der Österreicher leben im städtischen Raum. In Deutschland sind es sogar 77 Prozent. Das bedeutet für den Großteil der Kinder, dass sie in einem menschengemachten Umfeld aufwachsen, mit wenig Kontakt zur Natur. Gerade in einer Zeit, da Umwelt und Artenschutz groß geschrieben werden, wäre es wichtig, schon in den Kindern die Liebe zur Schöpfung zu wecken, meint die große Kinder- und Jugendtherapeutin Christa Meves:
Letzter Ferientag bei der Großmutter. Einmal noch sitzt Daniel, der Sechsjährige, mit ihr in der warmen Nachmittagssonne auf dem Bootssteg. Sie haben einen Eisvogel gesichtet und hoffen, dass er wieder heranfliegt…
Gemeinsam lassen sie die Beine baumeln. Es ist still. Gelegentlich huscht eine Amsel durch den Holunder und holt sich eine der Beeren, einzelne Blätter baumeln von den Erlen herab und fügen sich als Schiffchen dem Fluss ein. Das helle Laub der Birken blitzt – vom besonnten Wasserspiegel her - golden verwandelt herüber. Sanft säuselt der Wind im Auwald.
„Ich komme ja wieder“, sagt Daniel unvermittelt – so, als sei es nötig, sich zu trösten, so, als schlösse er – eins mit der Natur – seinen leisen Abschiedsschmerz mit dem nahenden Ende des Sommers und die Hoffnung auf dessen Wiederkehr mit ein.
Kinder, die mit der Natur aufwachsen, sind ihr unbewusst unmittelbar nah. Weil in ihnen selbst die Natur noch so viel mächtiger ist als der Intellekt, sind sie in einer besonderen Weise fähig zur Kommunikation mit ihr. Deshalb haben sie auch so viel Interesse an den natürlichen Dingen um sie herum.
Das heißt freilich noch nicht so ohne Weiteres, dass ihnen die Achtung vor der Natur selbstverständlich ist. Sie bedienen sich zunächst der Natur, wie sie sich ihres eigenen Körpers bedienen: unnachdenklich, selbstverständlich. Dabei können sie freilich ruppig sein, sie greifen nach den Halmen, den Blättern, den Zweigen um sie her und können sie auch achtlos beschädigen, genauso wie sie im Voranstürmen über Stock und Stein auch ihren eigenen Körper verletzen können.
Aber seelisch gesunde Kinder haben eine große Freude an all dem Wahrnehmen des Werdens und Wachsens. Sie fühlen sich mit den Pflanzen und Tieren verwandt, sie spüren unbewusst, dass auch sie Organismen sind, die reifen. Das ist eine kostbare Begabung, die heute in der Gefahr ist, durch die Dominanz des Künstlichen in unserem Leben erstickt zu werden, besonders durch das Smartphone und das Vordrängen des digitalen Lebens auch schon bei den Schulkindern.
Deshalb ist es heute für die Erziehenden sinnvoll, bei den Kindern Naturbeobachtung zu unterstützen und durch Kenntnisübermittlung zu stärken. Und es ist deshalb auch eine schöne erzieherische Aufgabe, die wenig Mühe macht, den Kindern Achtung vor der Natur zu vermitteln, indem man ihnen verdeutlicht, dass es sich dabei um große, verehrenswerte Kunstwerke handelt.
Das Unbewusste der Kinder, denen man diese Gelegenheit schenkt, weiß das. Den Kindern Achtung vor der Natur zu vermitteln, ist lediglich ein Vorgang des Bewusstmachens, der die kindliche Freude an der Natur vertiefen und den Sinn für ihre Schönheit so vorbereiten kann, dass er vom Jugendalter ab zu einem lebendigen Wert werden kann.
Kinder, die in und mit der Natur aufgewachsen sind, haben deshalb auch als Erwachsene die Chance, Sinn für das Maß und die Grenze sogar des Menschen zu entfalten.
Eine junge Schweizerin, die jenseits eines Sees auf einem einsamen Berghof in den Alpen beheimatet war, sagte einmal: „An jedem Morgen mussten wir erst für die Fahrt über den See auf dem Weg zur Schule genau schauen: ,Was sagt der Berg, was sagt der See?’ Wir haben auf diese Weise früh gelernt, dass wir abhängige Geschöpfe von großmächtigen Gewalten sind.“
Naturbeobachtung vermittelt dem Menschen häufig mehr Wissen über sich selbst und die eigenen Grundgegebenheiten als ein verkopftes Studium. Jedenfalls haben Menschen, die als Kinder in weiträumigem, natürlichem Umfeld aufwuchsen, als Erwachsene häufig das bessere Gespür dafür, was ihren eigenen Kindern bekommt oder was nicht. Der unbeeinflusste Umgang mit der Natur hat ihr Gefühl dafür wachgehalten.
In unserem Zeitgeist heute beginnt die Natur, wieder einen berechtigten Stellenwert zu haben. Aber eine Erziehung dazu muss von einer aufmerksamen Naturliebe begleitet sein, wenn sie bei den Kindern haften soll; denn nur wer liebt, versucht das, was er liebt, wertzuhalten und zu beschützen. Und wie nötig ist das in unser aller Situation!