VISION 20005/2021
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Eine kollektive Zwangsneurose

Artikel drucken Über die psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen

Beobachtung in einem Kaufhaus: An der Kassa steht ein Ehepaar, beide mit Maske. Ein Mann ohne Maske stellt sich einen Meter hinter ihnen eben­falls zum Zahlen an, worauf der Ehemann laut kritisiert, es habe sich noch nicht herumgesprochen, dass man Abstand halten müsse. Die Angst vor dem Mitmenschen scheint mittlerweile alltäglich. Erlebt dies auch der Psychotherapeut in seiner Praxis? Dazu das folgende Gespräch.

Aufgrund Deiner Erfahrungen bei Patienten-Gesprächen: Wie beurteilst Du die psychische Situation der Menschen in unseren Tagen?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Ich beobachte, dass die Leute sehr gestresst sind. Sie leben vielfach seit 1,5 Jahren im Katastrophen-Modus. Bei üblichen Katastrophen – Erdbeben oder Überschwemmungen etwa – reagiert der Körper, um mit der herausfordernden Situation umzugehen: Adrenalin, Cortisol werden ausgeschüttet. Solche Ausnahmesituationen dauern vielleicht zwei, drei Wochen. Danach ist das Problem meist halbwegs bewältigt. Das normale Leben geht wieder weiter. Stress darf also sein. Aber andauernd Stress ist sehr gefährlich.

Kennzeichnet das die derzeitige Lebenssituation der Menschen?
Bonelli: Meine Beobachtung ist, dass die Menschen jetzt erschöpft sind, dass sie aus den Gedankenspiralen rund um die Corona-Problematik nicht mehr herauskönnen. Viele sind richtig verzweifelt. Besonders belastend ist das ununterbrochene Medien-Bombardement mit schlechten, bedrohlichen Nachrichten. Es wird ja seit 1,5 Jahren nicht besser. Ich habe Patienten, die beschäftigen sich sechs, sieben Stunden am Tag mit der Thematik. Vorher haben sie das nicht gemacht. Man schlittert immer mehr in eine Abhängigkeit von der Frage: Was gibt es Neues?

Ist also das Medien-Bombardement ein wesentlicher Stress-Erzeuger?
Bonelli: Natürlich.

Kann man von einer Sucht sprechen?
Bonelli: Wenn jemand mit dieser Belas­tung zu mir kommt, dann verordne ich meistens ein, zwei Wochen Medien-Karenz. Und dann beobachte ich, dass es den Leuten viel besser geht, weil sie sich auf Wesentlicheres konzentrieren. Das Lustige daran ist, sie stellen fest: Eigentlich haben sie nichts versäumt. Man versäumt also nichts, wenn man nicht so genau hinschaut. Mir selbst ist es im Jänner sehr schlecht gegangen. So habe ich aufgehört, irgendetwas in dieser Richtung zu lesen – und plötzlich ging es mir wieder gut. Der Mensch ist nicht so gebaut, dass er sich ständig von Gefahren bedroht erleben kann. Einer meiner Patienten, der 1,5 Jahre in Afghanistan gekämpft hat, ist wirklich fast kaputt. Er konnte sich nirgends entspannt zur Ruhe begeben in der Gewissheit, sicher am nächsten Morgen noch am Leben zu sein. Sicher, das ist extrem. Aber ich beobachte, dass viele Menschen heute nicht wirklich entspannen können. Sie werden dauernd mit Bedrohung konfrontiert: durch neue Virus-Varianten, durch neue Maßnahmen zu deren Bekämpfung. Niemand kann mittlerweile sein normales Leben weiterführen: Maske, Einschränkungen, Begehungsverbote… Oft weiß man gar nicht, was erlaubt und was verboten ist. Und daher bei vielen eben dieser Drang: Ich muss am Laufenden sein. Davon ist unser Alltag geprägt.

Das ist ein markanter Bruch mit den relativ überschaubaren Lebensumständen in unseren Ländern während der letzten Jahrzehnte …
Bonelli: Interessanterweise sagen mir Leute mit Erfahrungen in den ehemaligen Ostblockstaaten, dass sie die jetzige Situation hier an frühere Zeiten erinnert. Einerseits eine enorme Desinformation und dann Ungewissheit: Was ist erlaubt, was verboten?

Machst Du die Erfahrung, dass ehemalige Patienten, die schon über den Berg waren, jetzt neu belastet wurden?
Bonelli: Meiner Meinung nach ist das nicht die Regel. Aber, um das zu beantworten, muss ich weiter ausholen. Ich hatte schon vor der Corona-Zeit Patienten, die Sorge wegen Ansteckung hatten, Mundschutz trugen, größten Wert auf Desinfektion legten, nichts angegriffen haben…, die eben an einer Neurose litten. All das, was uns jetzt befohlen wird, gab es also als Erscheinung schon vor Corona. Aber es galt als psychische Erkrankung, etwa ein Waschzwang. Es handelte sich um Zwangshandlungen. Deswegen spreche ich jetzt von einem Phänomen der kollektiven Zwangsneurose, weil mittlerweile die große Masse von solchen Zwangshandlungen erfasst ist. Einige meiner Patienten von früher durchschauen dieses Muster, haben es überwunden und daher jetzt keine Angst vor Corona.
Allerdings gibt es auch solche, denen es wieder schlechter geht, vor allem jene, die zu ihrer Heilung mühsam Sozialkontakte aufgebaut hatten und dann durch die Corona-Maßnahmen in Isolation geraten sind. Insgesamt aber kann man sagen: Die Menschen sind deutlich gestresster, viel mehr, als sie es sein sollten.

Welche Sorgen bedrängen die Menschen am meisten, dass sie so gestresst sind?
Bonelli: Da sind natürlich einerseits die Sorgen um die Gesundheit, die ja dauernd als bedroht dargestellt wird. Dann gibt es viele, die wiederum die Maßnahmen als bedrohlich erleben, die sagen, es gehe alles in eine totalitäre Richtung und solche, die sich um ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen. Ja, es gibt Menschen, die sogar einen Bürgerkrieg befürchten. Und dann natürlich jene, die sich vor einer Zwangsimpfung fürchten und was diese ihnen dann beschert. Es gibt ja Menschen, die sich dauernd damit beschäftigen, wer wieder an einer Impfung gestorben ist. Auf der einen Seite also Angst davor, an Corona zu sterben, und andererseits Angst, an einer Zwangsimpfung zugrunde zu gehen.

Wie überwindet man solche Ängste?
Bonelli: Den Blick abwenden, sich wesentlichen Fragen des Lebens zuwenden, den Fragen nach dem Wahren, Guten und Schönen. Zu erkennen, dass das Leben nicht nur durch Gesundheit wertvoll ist.

Ich sprach kürzlich mit einem Priester, der betroffen war, dass er so vielen Ängsten begegnet, der aber auch meinte, es gebe heute wieder eine größere Offenheit für Sinnfragen. Machst Du auch diese Erfahrung?
Bonelli: Unbedingt. Die Leute leiden so stark, dass sie nach Auswegen suchen. Und dann sind sie ansprechbar für wesentliche Perspektiven. Die gläubigen Menschen haben es einfacher, aber viele, die dieses Glück nicht haben, sind extrem desorientiert. Wenn ich sie dann dazu animiere, sich für das Wahre, Gute und Schöne zu öffnen, nehmen sie das vielfach an. Und zwar Menschen aller Ideologien. Den Wunsch danach trägt der Mensch in sich. Ja, da gibt es eine größere Offenheit, jedenfalls im Vergleich zu den Zeiten, als rundum alles gut zu laufen schien.

Wer sich für solche Fragen öffnet, erfährt der einen Stressabbau?
Bonelli: Wer es schafft, von der Schlange wegzuschauen – denn ich erlebe viele, die wie die Maus vor der Schlange erstarren –, dem geht es nachweislich besser.

Wie animiert man dazu wegzuschauen?
Bonelli: Indem man das Problem aufzeigt: Was macht dir Angst? Was löst deine Emotionen aus? Sobald jemand verstanden hat, dass die dauernde Konfrontation mit demselben Thema die Angst auslöst, kann er das auch ändern. Die Verhaltensänderung steht am Anfang. Dann ändert sich die Emotion mit der Zeit.

Heute bedarf es also der Einsicht, dass weder Corona so gefährlich, noch die Impfung unbedingt tödlich ist. Geht es also darum, Gefahren zu relativieren?
Bonelli: Genau. Jede Neurose basiert auf einer exzessiven Angst, sie überschätzt die tatsächliche Bedrohung. Ich hatte schon vor Corona einen Patienten, der unter einer Zwangsneurose litt, er könne sich anstecken und krank werden. Alles, was außerhalb seines Hauses war, erlebte er als bedrohlich. Kam er heim, wechselte er vollkommen die Kleidung, nachdem er geduscht hatte. Das machte ihn dann sicher. Nur, damit er sich wirklich sicher fühlte, mussten alle Personen im Haushalt das Spiel mitmachen. Alles musste also dauernd desinfiziert werden. Zwangsneurosen sind sehr oft expansiv: Andere müssen mitspielen, damit ich mich sicher fühle. Das sehen wir jetzt auch bei den Masken: Andere müssen Masken tragen, damit ich mich sicher fühlen kann. Es könnte ja vollkommen genügen, dass jene, die sich fürchten, eine Maske tragen, um sich zu schützen. Aber das reicht offenbar nicht. Daher meine Feststellung: Was wir früher nur in Einzelfällen wahrgenommen und behandelt haben, das erleben wir jetzt im Kollektiv. Daher spreche ich auch von einer kollektiven Zwangsneurose.

Das Gespräch mit dem Wiener Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Raphael Bonelli führte Christof Gaspari.


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