Im Zuge der Debatte über Kindesmissbrauch in der Kirche wurde das Beichtgeheimnis infrage gestellt. Muss man nicht jemanden, der so schweres Unrecht begangen hat, anzeigen? Im Folgenden Gedanken, wie wichtig das Beichtgeheimnis ist.
Die Kirche hat immer am Beichtgeheimnis festgehalten. Warum eigentlich?
P. Thomas Poussier: In der Kirche gab es viele Debatten über Möglichkeiten, einen Schuldigen, der besonders Böses getan hatte, anzuzeigen. Auch heute sagt man mir: „Wenn einer einen Mord begangen hat, kann man ihn selbst dann nicht anzeigen?“ Zwar hat die Kirche es zur Pflicht gemacht, einen Missbrauch, von dem eines ihrer Mitglieder Kenntnis erlangt hat, anzuzeigen. Aber diese Anzeigpflicht betrifft nicht das, was in der Beichte gesagt wurde. Dabei geht es nicht darum, Verbrechen zu vertuschen, sondern darum, dass für jeden, der dies wünscht und darum bittet, sich ein persönlicher Weg der Versöhnung und der Barmherzigkeit erschließt. Das Beichtgeheimnis ist die unbedingte Voraussetzung dafür, dass der Mensch den Schritt wagt, seine Sünden zu bekennen, diesen befreienden und doch so schwierigen und herausfordernden Akt zu setzen.
Das steht allerdings im Widerspruch zum heutigen Dogma der Transparenz…
P. Poussier: Dieser Drang nach Transparenz verwechselt die Wahrheit mit dem Sichtbaren. Man kann den Menschen aber nicht auf seine Handlungen reduzieren, auf seine Sünden. Und man kann ihn nicht mit dem gleichsetzen, was er zu erkennen gibt. Das ist Gutmenschentum, das nichts mit Wahrheit zu tun hat, die uns frei macht und von der Christus spricht. Das Beichtgeheimnis entspricht einem Bild vom Menschen in all seiner Komplexität. Wir sind nicht nur arm in unserer Sündhaftigkeit, sondern auch voll Größe in unserer Fähigkeit, Gutes zu tun.
In dem tiefgründigen Gespräch, das Er mit der Samariterin führt, beweist Jesus eine immense Feinfühligkeit. Da ist niemand dabei, kein Zeuge. Das spielt sich von Mensch zu Mensch ab, nicht im Kollektiv. Er dringt nicht in ihr Intimleben ein, indem Er von allen ihren Männern erzählt. Wir erkennen, wie sehr Christus auf eine stets offene Zukunft setzt. Ein Bekehrung und ein anderes Leben sind immer möglich. Wenn Er den Sündern, denen er begegnet, sagt: „Geh und sündige nicht mehr!“, geschieht genau das.
Hat etwa das Geheimhalten einen echten Wert?
P. Poussier: Das Berufsgeheimnis, insbesondere das der Ärzte, ist so etwas wie die gesellschaftliche und juristische Aktualisierung dessen, was das Beichtgeheimnis im religiösen Bereich bedeutet: Es definiert einen Raum, in dem Menschen sich jemandem anvertrauen können, ohne dass dies publik wird. Ähnlich ist es in der Erziehung der Kinder: Man bringt ihnen bei, das, was sie auf dem Herzen haben, zu sagen – aber nicht alles allen und jederzeit. Auf diese Weise entsteht ein Innenleben, in dem die Ereignisse festgehalten und im Herzen erwogen werden können. So erwirbt man eine Feinfühligkeit, eine Art Keuschheit, die richtige Distanz zu den Mitmenschen. Sie drängt dem andern die eigenen Sichtweisen nicht auf und ist nicht darauf aus, die der anderen anzuzapfen. Man lernt auszuwählen, wem man sich anvertrauen kann. So vertraut man Intimes jemandem besonderen an, ohne es der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen. Auf diese Weise werden Ereignisse (einen neuen Freund in der Schule zu haben, verliebt zu sein…) kostbar. Sie groß zu verbreiten, würde sie entwerten, denn so bewahrt man seine Freiheit, schützt sich vor Meinungen, die sich ändern, und vor Influencern.
Was sagt uns dieses Geheimhalten über unsere Beziehung zu Gott?
P. Poussier: Gleich nach der Ursünde ruft Gott den Adam, der sich versteckt, indem Er sagt: „Wo bist du?“, ohne aufdringlich zu sein. Gott blickt bis auf den tiefsten Herzensgrund, aber in einer Beziehung von Herz zu Herz, das dem Mensch den Raum offenhält, sich Ihm zuzuwenden unter größtem Respekt vor dessen Freiheit – nicht etwa wie eine Überwachsungskamera. Es gibt so etwas wie eine göttliche Keuschheit. Sie lädt den Menschen zur Freiheit ein, sich nicht darauf zu beschränken, nur Regeln einzuhalten, um göttlichem Zorn zu entgehen wie in einer Diktatur.
Gott sorgt sich um uns. Er liebt uns trotz aller Sünden, die wir begangen haben mögen. Genau das fällt uns so schwer zu glauben und zu verstehen. Und dennoch: Das ist die Grundwahrheit der Kirche und nicht etwa die theologische Meinung dieses oder jenes Papstes. Gott ist sowohl gerecht als auch barmherzig. Wir neigen dazu anzunehmen, Gott sei ein bisschen so wie wir, und meinen, dass es da irgendwo Grenzen geben müsste. Aber Seine leidenschaftliche Liebe zum Menschen ist grenzenlos. Um uns zu retten, hat Er sogar Seinen Sohn am Kreuz hingegeben.
Auszüge aus einem Interview, das Clotilde Hamon für Famille Chrétienne v. 10.-16.7.21 geführt hat.
P. Thomas Poussier ist Autor von Le Secret de confession, Salvator, 192 Seiten, 19€