Was prägt unsere Zeit? Und: Wie sollten Christen auf die geistigen Herausforderungen des vorherrschenden weltlichen Denkens reagieren? Diesen Fragen geht das folgende Gespräch nach.
Wir sprechen über die Zeichen der Zeit, also die geistigen Entwicklungstendenzen. Welche siehst Du heute als bedeutsam an? Und inwiefern ist es für Christen wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen?
Reinhard Pichler: Ich sehe drei große Entwicklungsströme, die an einen Endpunkt kommen. Damit meine ich: Es gibt Entwicklungen, von denen man erkennen kann, dass es so nicht weitergehen kann. Der erste geistige Entwicklungsstrang ist folgender: Die Menschen finden keinen Sinn mehr – und zwar nirgends: weder in der Beziehung, noch in der Kirche, auch nicht im Geld, im Beruf, in der Karriereentwicklung, im Sport…
Wie ist das zu verstehen?
Pichler: Es kommt all das zu einem Endpunkt, weil höher, schneller, weiter – irgendwie geht das nicht mehr. Ein Beispiel: die verrückten Dinge, die im Hangar 7 aufgeführt werden, also beim Extremsport: etwa der Stratosphärensprung von Felix Baumgartner aus 40 Kilometer Höhe. Oder: Eiswasserfall-Klettern ist schon verrückt, aber es gibt Youtube-Videos, in denen man sieht, wie Mountain-Biker solche Wasserfälle hinunterfahren und irgendwie überleben! Alles das sind Beispiele von im Grunde genommen perversen, sinnentleerten Aktivitäten.
Das sind Beispiele aus dem Sport. Aber Du hast auch den beruflichen Bereich erwähnt…
Pichler: Ich kenne Menschen, die verantwortlich für ein so großes Vermögen oder so viele Mitarbeiter sind, dass sie diese Verantwortung nicht mehr fassen können. Ja schlimmer noch, sie erfassen den eigentlichen Sinn ihrer Tätigkeit nicht mehr. Ein Beispiel: Es geht bei vielen Unternehmen gar nicht mehr darum, ob sie eine sinnvolle Dienstleistung erbringen und sichere Arbeitsplätze bieten, sondern nur mehr um deren Aktienkurse. Ähnliches gilt für den Immobilienbereich, wo zunehmend die Bautätigkeit um des Bauens willen stattfindet…
Du sprachst auch von den Beziehungen…
Pichler: Selbst gläubige Menschen gehen heute an Beziehungen entweder mit allzu großen Erwartungen heran oder sie sind komplett desillusioniert. Dazu tragen auch die Medien bei, die ein weiterer Bereich sind, in denen wir an ein Ende der Sinnhaftigkeit stoßen. Bei der heutigen Berichterstattung steht man dauernd vor der Frage: Was ist da wahr und was nicht? In der Fülle sich widersprechender Meldungen verliert man leicht die Orientierung. Zum Teil wird die Verwirrung systematisch gefördert.
Zusammenfassend also: Die sinnstiftende Dimension unseres alltäglichen Lebens kommt uns weitgehend abhanden…
Pichler: Ja, und da muss ich auch noch auf den Bereich Kirche zu sprechen kommen. Auch hier kommt das eigentlich wesentliche Geheimnis vom Leiden, Sterben, Tod und von der Auferstehung Jesu Christi, das im Vordergrund des kirchlichen Geschehens stehen sollte, aus dem Blick. So viel Nebensächliches verstellt diesen Blick. Die Kirche stellt vor allem ihre sozialen Aktivitäten in die Auslage, engagiert sich im Klimaschutz, viele Gottesdienste vermitteln den Eindruck, der Glaube sei vor allem Event und die Kirche ein Treffpunkt zur Begegnung. So wird der Blick auf das Geheimnis des Glaubens verstellt. Wieder ein Beispiel: Eine Gruppe will in der Pfarre die 33-tägige Weihe an Jesus durch Maria starten. Der Pfarrer ist dagegen, weil diese Aktion die Pfarre spalten würde, wenn am 8. Dezember ein öffentlicher Weiheakt in der Kirche stattfinden sollte.
In Zeiten von Corona hat sich ja die Kirche vielfach nicht deutlich von anderen nicht „lebensnotwendigen“ Einrichtungen abgehoben.
Pichler: Stimmt. Dabei wären viele Leute in ihrer Sorge offen gewesen für Antworten auf Fragen wie: Was hat das zu bedeuten? Wie geht es weiter? Wie kann Gott das zulassen? Diese Chance wurde nicht wirklich genutzt. Man hätte aber, wie es ja in der Geschichte der Kirche oft geschah, das Geschehen auf Gott hin deuten können. Vermittelt wurde vielmehr eine innerweltliche Botschaft: Wir halten zusammen – und es wird wieder aufwärts gehen. Es stimmt schon: Es gab Online-Gottesdienste, in denen Jesus im Zentrum gestanden ist. Aber insgesamt ist in dieser Zeit der Not festzustellen, dass sich die Kirche weltlich gefügt und ihre besondere Botschaft nicht an den Mann gebracht hat.
Dabei gibt es ja insbesondere aus dem Alten Testament die Erfahrung des Volkes Israel, das in Zeiten großer Not immer wieder die Erkenntnis geschenkt bekam, dass Bedrängnis eine Einladung Gottes zur Umkehr darstellt.
Pichler: Ja, da hat die Kirche nicht ihre Chance genutzt. Was heißt also Zeichen aus christlicher Perspektive erkennen? Sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, mutig Antworten aus dem Glauben zu geben.
Was meinst Du mit: „mutig zu antworten“?
Pichler: Klar Stellung aus dem Glauben zu beziehen, sodass die Menschen das als Hilfe begreifen können, dass ihr Vertrauen wächst, dass sie mehr dem Gebet vertrauen, dass sie bei Mutter Kirche Geborgenheit erleben können.
Du sprachst von einem zweiten Strang. Worum geht es da?
Pichler: Es gibt immer mehr Bereiche, in denen die Freiheit eingeschränkt, die eigene Meinung nicht mehr ausgesprochen wird aus Angst, Anstoß zu erregen. Man darf vielfach nicht mehr suchend hinterfragen. Anspruch auf Gültigkeit hat nur mehr die Sichtweise, die in den Medien vorherrscht, auf Youtube, Facebook oder im Fernsehen. Auf diesem Weg wird das, was viele sagen, zur Wahrheit. Je eindrucksvoller eine Organisation auftritt, je größer ihr internationales Gewicht, umso leichter etabliert sich deren Sichtweise als nicht zu hinterfragende Wahrheit. Das hat viel mit der Gleichschaltung der Medien zu tun. Sie prägen den Zeitgeist. Ähnliches haben wir auch unter totalitären Systemen in früheren Zeiten erlebt. Aber die Globalität, in der dieses Phänomen heute auftritt, ist neu.
Das hat sich aber schon lange abgezeichnet. Schon Alexander Solschenizyn hat dies 1978 in seiner Harvard-Rede angeprangert. Hat sich das in letzter Zeit verstärkt?
Pichler: In den letzten 1,5 Jahren hat sich das meiner Wahrnehmung nach stark verändert. Es ist viel schwieriger geworden, seine Meinung sagen zu dürfen, etwa als Arzt eine Sichtweise, die von der allgemein propagierten abweicht.
Allerdings gilt das für andere Themen auch. Über bestimmte Themen wird gar nicht mehr diskutiert, etwa wenn es um die „Ehe“ für alle geht.
Pichler: Ja. Es ist bemerkenswert, wie einhellig die Meinung in vielen Fragen geworden ist. Das gilt auch für den Transhumanismus oder ob geschlechtsumwandelnde Eingriffe Sinn machen. Auch dass jetzt in Fragen des Klimaschutzes alle Länder an einem Strang ziehen, ist erstaunlich. Die weltweit einheitliche Reaktion auf die Corona-Pandemie scheint meiner Meinung nach diese Haltung befördert zu haben. Das wäre an sich eine erstrebenswerte Entwicklung, wenn sie nicht vielfach ideologisch geprägt und von Massenmedien systematisch vorangetrieben würde. Denn dadurch wächst die Gefahr, dass weltweit das Falsche getan wird und man sich dabei gut fühlt. Übersehen wird dabei, dass man intelligente Kritik unterwegs schlecht gemacht und beiseite geschoben hat. Der Verlust solcher Kritik ist ein Alarmzeichen. Hier sind wir somit bei den Zeichen der Zeit, was Punkt 2 anbelangt: Wir stehen vor der Frage: Wird die Freiheit des Urteilens erhalten oder geht es in eine Richtung, in der am Ende eine Diktatur steht?
Und der dritte Strang?
Pichler: Für Christen die Frage: Wie sehr bin ich imstande und bereit, auf das Wesentliche zu schauen? Und: Wie sehr lasse ich mich in Versuchung führen, vom Zeitgeist beeinflusst zu werden? Es gibt auf diesem Sektor ja ein enormes Angebot. Ich denke an die Warnung, die vor ein paar Jahren herumgegeistert ist. Wie viele sind diesen „Botschaften“ auf den Leim gegangen! Es geht also um die Unterscheidung der Geister. Aber noch etwas kommt dazu: Die Wachheit zu pflegen, die mich erkennen lässt, worauf ich verzichten sollte, obwohl es verlockend erscheint und ich bisher daran gewöhnt war. Meine Erfahrung: Jene, die zu solchem Verzicht bereit sind, können auf dem Weg einer Vertiefung voranschreiten und lassen sich weniger verwirren.
Was hilft bei der Unterscheidung der Geister?
Pichler: Da gibt es drei Ebenen. Die erste: Man soll den Hausverstand einsetzen und ihn nur ja nicht verlieren. Der Mensch hat so ein Grundg’spür dafür, was gut und richtig ist. Beides ist zu unterscheiden. Bei gut geht es um die Absicht der Handlung, bei richtig um deren Ergebnis.
Nun zu Ebene 2: Immer zu fragen, was wäre mit den Augen Gottes betrachtet das Gute und das Richtige? Was würde Jesus von mir erwarten? Da geht es nicht primär um Einhaltung von moralischen Regeln. Vielmehr darum, in einer innigen Beziehung zum Dreifaltigen Gott zu leben und zu erspüren: Würde meine Entscheidung Jesus betrüben oder nicht? Schließlich Ebene 3: Alle Herausforderungen, alle Dilemma-Situationen, die nicht so leicht zu erfassen sind, insbesondere Leid und Tod, muss ich versuchen, verstehen zu lernen. Was will Gott mir sagen, dass Er das zulässt? Wer das lernt, erfährt gleichzeitig Befreiung.
Wie fasst Du Deine Überlegungen zusammen?
Pichler: Menschlich gesehen sind wir mit einer äußerst bedrohlichen Situation konfrontiert. Sie ist dann nicht aussichtslos, wenn wir, wie gesagt, die Erfahrungen des Volkes Gottes ernst nehmen und zu einer Umkehr bereit sind.
Mag. Dr. Reinhard Pichler MBA, MSc ist Theologe und Psychotherapeut (Schwerpunkt: orthomolekulare Therapie). Mit ihm sprach Christof Gaspari