VISION 20006/2021
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„Nach dem Tod unserer Töchter haben wir Gott gefunden“

Artikel drucken Beim terroristischen Attentat in Paris 2015 verlor ein Ehepaar ihre einzigen zwei Kinder

Was erwarten Sie für ein Urteil, da jetzt sechs Jahre nach dem Attentat im Bataclan der Prozess beginnt?
Sylvie & Erick Pétard: Dieser Fall musste von der Justiz aufgegriffen werden, nur wird sie uns unsere Töchter Anna und Marion – sie waren 24 und 27 Jahre alt – nicht mehr wiedergeben. Gestern wäre Anna 30 geworden. Für uns geht es nicht um das Bataclan-Attentat, sondern um jenes vom 13. November 2015. Das mag ein Detail sein, aber unsere Töchter waren auf der Terrasse des Carillon und nicht im Bataclan, als sie von Kalaschnikow-Salven niedergestreckt worden sind.

Nehmen Sie als Privatbeteiligte an dem Prozess teil?
Sylvie & Erick Pétard: Wir wussten gar nichts davon. Ein Gerichtsvollzieher hat uns zwar einen Brief geschickt und uns danach gefragt. Aber ich weiß gar nicht  einmal recht, was ich da unterschrieben habe. Wir vertrauen der französischen Justiz nicht. Sie wird an all dem nichts ändern. Wir verfolgen den Prozess nicht einmal.

Wer ist Ihrer Ansicht nach schuld an dem Tod Ihrer Töchter?
Sylvie & Erick Pétard: Was für eine Frage. Vielleicht die, die geschossen haben und deren Auftraggeber, insbesondere der IS. Aber auch jene, die das geschehen lassen, die Politiker.

Wie kam es, dass Ihre Töchter mitten in dieses Drama hineingerieten?
Sylvie Pétard: Am Mittwoch, den 11. November, an meinem Geburtstag, habe ich mit meiner Tochter Anna telefoniert. Sie wollte uns überraschen und zu meinem 54. Geburtstag aus Barcelona kommen. Marion, meine andere Tochter, hat das Geheimnis verraten und gesagt, Anna würde am Freitag nach Paris kommen, um dann das Wochenende bei uns im Loir-et-Cher zu verbringen. Sie wollte auch meine Mutter, die im Spital lag, besuchen und unbedingt unseren neuen Hund kennenlernen. Am Freitag, dem 13. November hat sie ihre Schwester zum Nachtmahl getroffen, während wir uns einen Film im Fernsehen angeschaut haben. Im Anschluss haben wir mitbekommen, dass es zu Schießereien beim Stade de France und in Paris gegeben habe. 130 Tote habe es gegeben. Wir dachten: „Na so was! Die Armen, das ist ja furchtbar!“ Dann haben wir gehört, dass Schüsse in der Nähe des „Canal Saint-Martin“ gefallen waren, also in der Nähe von Marion.

Erick Pétard: Meine Frau war aufgewühlt, sie spürte etwas – man kann es nicht erklären. Sie hat die Töchter sofort angerufen und bat um einen Rückruf. Ich meinerseits dachte nicht, dass meine Kinder in dieses Gemetzel geraten sein könnten. Je mehr aber die Zeit verging, umso mehr haben wir uns gedacht, dass das nicht normal sei, keinen Rückruf zu bekommen. In meiner Angst bin ich in die Fleischerei gegangen, um zu arbeiten. Kurz darauf kam Sylvie nach. Wir bekamen es wirklich mit der Angst zu tun.

Wer hat Ihnen die unfassbare Nachricht überbracht?
Sylvie Pétard: Am Tag darauf, Samstag, dem 14. November, um 18 Uhr – wir waren in der Fleischhauerei – bekamen wir einen Anruf am Handy. Ich habe es Erick gegeben, damit er spreche; ich fürchtete mich zu sehr vor dem, was ich hören könnte. Es war das Innenministerium. Die Töchter seien niedergemäht worden, als sie in der Nähe des Petit Cambodge spazieren gingen. Und da, was soll ich Ihnen sagen, wir waren wie vom Blitz getroffen. In Tränen aufgelöst. Unvorstellbar, was für ein tiefer Fall! Wer so etwas nicht erlebt hat, kann es nicht begreifen.
Erick Pétard: Wir hatten alles, um glücklich zu sein. Den Kindern ging es gut, sie hatten erfolgreich studiert. Sylvie und ich, wir gingen in unserem Beruf auf – und da stürzt das ganze Gebäude ein. Wir haben die Fleischhauerei zugesperrt. Wussten, dass wir nicht so bald wiederkommen würden. Eugénie, eine Freundin meiner Frau, ist gekommen, und wir haben gemeinsam geweint. Wir wollten sofort aufbrechen und unsere Töchter sehen. Ein weiterer Anruf des Ministeriums hat uns daran gehindert. Wir erfuhren, dass die Töchter in Wirklichkeit auf der Terrasse des Carillon getötet worden waren.

Haben Sie in dieser Situation an Gott gedacht?
Erick Pétard: Ich habe einen Köhlerglauben. Ich habe weiter gebetet, auch wenn meine Gebete nicht immer passend gewesen sein mögen. Ich war immer gläubig, aber nach der Erstkommunion bin ich weggeblieben. Im Herzen hatte ich immer die Gewissheit, dass wir nicht umsonst auf der Erde sind. Es ergäbe ja keinen Sinn, dass wir da sind, wenn Gott es nicht gewollt hätte.
Sylvie Pétard: Auch ich bin nach der Erstkommunion nicht mehr in die Messe gegangen. Als ich Erick kennengelernt habe, hat er mir etwas auf die Sprünge geholfen. Wir sind zwar nicht in die Messe gegangen, aber im Auto beteten wir, wenn wir in die Fleischhauerei gefahren sind: er aus Treue, ich, ihm zuliebe, ohne Tiefgang. Mittlerweile weiß ich, dass man auch beten kann, wenn es einem gut geht. Aber damals wusste ich das nicht. Während ich auf den Anruf meiner Töchter wartete, habe ich Gott angerufen. Wirklich begegnet bin ich Ihm aber erst nach ihrem Tod.

Was geschah im Gefolge der Todesnachricht am 15. November?
Erick Pétard: Der Empfang der Minister Christiane Taubira und Bernard Cazeneuve in der Militärakademie war nicht sehr herzlich und eher hilflos. Wir haben bis 17 Uhr gewartet, um unsere Töchter zu sehen. Sie lagen im Gerichtsmedizinischen Institut hinter einer Glaswand und unter Tüchern, waren sehr übel zugerichtet… Hass erfüllte mich, vor allem gegen die Politiker, die dieses Abschlachten nicht verhindert hatten. Sylvie war irgendwie weggetreten. Wir konnten nicht aufhören zu weinen.

Sie machen den Eindruck eines sehr zusammengeschweißten Paares. Und dabei führt der Verlust eines Kindes oft zum Platzen der Ehe…
Erick Pétard: Wir waren immer ein Herz und eine Seele. Seit 32 Jahren. Unsere Kraft und unsere Zuflucht ist die Liebe.

Sie haben geschrieben, Ihr Leben sei zu Ende. Denken Sie immer noch so?
Erick Pétard: Sicher, wir haben noch Familie, aber die Töchter kommen uns nicht mehr besuchen, wir werden keine Enkeln haben. Alles, was wir besitzen, ist zu nichts gut. Wir hatten für sie gearbeitet. Das Leben zerbrach. Und dennoch bleibt ein kleines Licht: der Glaube.
Sylvie Pétard: Hätte ich das gewusst, so hätte ich sie auf diesen Weg geführt. Vielleicht wären sie dann noch da.
Erick Pétard: Wir haben sie in die Privatschule geschickt, sie waren getauft, waren bei der Erstkommunion. Sie hätten zum Glauben zurückgefunden, vor allem Marion, sogar Anna. Sie hatte sich von Gott losgesagt nach dem Selbstmord einer Freundin, die sich vor einen Zug geworfen hatte. Sie meinte, dass „wenn es Gott gäbe, hätte sich Sonja nicht umgebracht.“ Mit 17 ist das normal.

Können Sie sagen, wann Sie den Glauben wiedergefunden haben?
Sylvie Pétard: Nicht genau. Ich verspürte immer mehr das Bedürfnis und die Notwendigkeit zu beten. Ein Jahr nach dem 13. November hat mir Eric gesagt: Es wäre besser, Du wendest Dich Gott zu, als zu den Therapeuten zu gehen.“ Eines Tages bin ich in Annas Zimmer gegangen, und Gott hat mich zur Bibel, die sie zur Erstkommunion bekommen hatte, hingezogen. Stück für Stück habe ich darin gelesen. Ein anderes Mal – ich saß am Bettrand – betete ich. Und da – es war nicht wirklich eine Vision – war plötzlich Gott da, vor mir, die Mädchen an Seiner Seite und Maria weit dahinter. Jeden Abend kamen sie näher. Und eines Abends nahm sie die Töchter mit. Seither bin ich im Frieden. Ich kenne meine Töchter: Ohne Maria wären sie überall herumspaziert. Jetzt weiß ich: Wenn ich in den Himmel komme, werden sie mich mit Maria in Empfang nehmen. Mein Leben lang werde ich Gott nicht genug dafür danken können, dass Er mit uns ist.
Erick Pétard: Ich bin bodenständiger als meine Frau, einfacher. Ich war immer sicher, dass es Gott gibt. Ich hatte keine Visionen, aber ich weiß, dass der liebe Gott mit ihnen ist, Das ist normal, es kann nicht anders sein. Mein Glaube war nie erschüttert, allerdings ist mein Gebetsleben intensiver geworden und Sylvies Marienverehrung hat mich der heiligen Jungfrau näher gebracht …

Wie haben Sie den Weg, der sich da aufgetan hat, fortgesetzt?
Erick Pétard: Wir sind immer regelmäßiger in die Messe gegangen, vor allem nachdem wir unser Geschäft verkauft hatten, am 13. Dezember 2016. In der Pfarre sind wir Priestern der Communauté St. Martin begegnet, die uns geholfen und uns den guten Tipp gegeben haben, an einer Wallfahrt zum Heiligtum von Montligeon teilzunehmen. Wir sind dann öfter dorthin zurückgekehrt.
Sylvie Pétard: Seit etwa vier Jahren beten wir regelmäßig und konsequent. Morgens gemeinsam anhand der Heiligen Schrift und Gebete. Nach dem Mittag­essen lese ich das Magnificat. Dann betet jeder für sich, etwa eine dreiviertel Stunde lang. Erick am Tisch oder in der Veranda, ich habe meine Gebetsecke im Zimmer. Am Abend  vor dem Nachtmahl bete ich ebenfalls und danach „schreibe“ ich den Töchtern und lese in der Bibel. Ich habe schon mehrmals die Evangelien gelesen. Derzeit bin ich in die Lektüre des Propheten Daniel vertieft. Gern befinde ich mich auch in der Gesellschaft der Heiligen: Philomena, Johanna von Chantal, Teresa von Avila…
Erick Pétard: Ich würde mir gern mehr Zeit für die Heilige Schrift nehmen, aber derzeit bin ich faul. Ich habe 48 Jahre in einem harten Beruf gearbeitet, davon 37 im eigenen Geschäft. Und so fällt es mir schwer, mich zu motivieren. Aber ich bete täglich den Engel des Herrn. Ich bete auch zur Dreifaltigkeit, drei Gebete: um Kraft, Weisheit und Barmherzigkeit. Außerdem stärken uns die Wallfahrten und die Aufenthalte in den Klöstern: Ars, Montligeon, Ligugé. Und die Begegnungen mit Priestern, deren Lebenshingabe an Gott ich bewundere.

Hat sich Ihr Leiden verändert, seitdem Gott wieder in Ihr Leben eingekehrt ist?
Sylvie Pétard: Es ist nicht leichter geworden, aber ich komme besser damit zurecht, seitdem ich weiß, dass Marion und Anna mit Maria sind.

Und wie spielt sich Ihr Leben heute ab?
Sylvie Pétard: Wir leben ein Leben der Stille und der Meditation. Wir bemühen uns, uns nicht abzukapseln. Wir brauchen Kontakt zu anderen. Ich kümmere mich um den Blumenschmuck in der Kirche am Samstag Morgen, lese, bete, schreibe an einem Buch, das Zeugnis geben soll, an meinem kleinen blauen Buch, das die Grundlage für das Buch abgab, das wir heute veröffentlichen. Ich habe es selbst herausgegeben und rund 20 Leuten in meiner Umgebung geschenkt. Nur fünf haben darauf reagiert, aber was soll’s. Die Leute trauen sich nicht. Wir sprechen zwar mit Leuten aus der Pfarre, aber der Großteil unserer Umgebung ist ohne Glauben.
Erick Pétard: Wir würden gern unseren Glauben weitergeben, wissen aber nicht, wie wir das anstellen sollen. Mir gehen oft die Worte aus bei jemandem, der gegenargumentiert.

Können Sie verzeihen?
Erick Pétard: Gott wird ihnen verzeihen. Ich schaffe das nicht. Sie verdienen den Tod, weil sie Unschuldige umgebracht haben. Es sind arme Menschen, aber woher nehmen sie die Waffen? Ich bemühe mich, Menschen mit Groll nicht zu begegnen, damit dieser nicht auf mich abfärbt.
Sylvie Pétard: Ich habe mich anderem zugewendet. Es ist unmenschlich, von uns Vergebung zu verlangen, aber dessen nimmt sich Gott an. Mir bleibt nur, Gott zu bitten, Er möge vergeben. Und uns vergeben, dass wir ihnen nicht vergeben.
(…)
Was tröstet Sie letztendlich?
Sylvie & Erick Pétard: Dass wir zu zweit sind, unser Glaube und zu wissen, dass wir sie eines Tages wiedersehen werden. Das ist unsere einzige Hoffnung.

Famille Chrétienne v. 4.9.21
Das Zeugnis des Ehepaars in Buchform: L’esperance qu nous fait vivre. Attentats du Bataclan. éditions Artège, 14€


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