Ab 19. Februar findet ein Online-Kongress mit dem Titel: „Innere Feiheit“ statt. Ein wichtiges Thema in einer Zeit, in der die Lebensumstände schwieriger werden. Im Folgenden ein Gespräch mit dem Veranstalter über Gefährdungen der inneren Freiheit und wie man dieses Gut erhalten und fördern kann.
Was kann man unter innerer Freiheit verstehen?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Sie ist die Fähigkeit des Menschen, in sich manövrierfähig zu sein. Dann fällt er seine Entscheidungen aus freiem Entschluss und nicht als Ergebnis eines inneren Getriebenseins. Der innerlich freie Mensch wird im wesentlichen nicht von seinen Ängsten und Lüsten, seinen Bauchgefühlen beherrscht. Man spricht von innerer Freiheit auch dann, wenn sich ein Mensch selbst steuert und nicht weitgehend abhängig von äußeren Einflüssen ist.
Nun sind aber Ängste auch Teil der Persönlichkeit. Ist er also innerlich nicht frei, wenn Ängste, die er empfindet, ihn beeinflussen?
Bonelli: Dazu muss man sagen, dass Angst ein jener Faktoren ist, die am meisten unfrei machen. Sigmund Freud meint, dass Ängste und Lüste den Menschen antreiben, also die Welt der Emotionalität, die Welt des Es. Er sagt, das Prinzip des Es sei gekennzeichnet durch Lustmaximierung und Unlustvermeidung. Lustmaximierung ist lebensbejahend: Essen, Trinken, Sexualität. Unlustvermeidung betrifft vor allem die Angst. Angst macht unfrei und ist deswegen auch der große Feind der Freiheit.
Sich von Ängsten zu befreien, ist also der wirksamste Weg zur inneren Freiheit?
Bonelli: Unbedingt. Darüber hinaus ist es wichtig, mit seinen Lüsten umgehen zu lernen. Wahrzunehmen, wohin uns das Bauchgefühl treibt. Menschen nämlich, die stark von Lüsten angetrieben werden, sind ebenfalls äußerst unfrei. Wir reden jetzt hier über Süchte wie Drogen oder Sexualität. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich eine Patientin, die total nach Marihuana und Kokain gierte. Obwohl sie beruflich Karriere gemacht hatte und differenziert zu denken vermag, ist sie von diesen Lüsten so abhängig, dass sie all das aufs Spiel setzt, weil sie nicht mehr frei, sondern getrieben ist. Dann kippt sie sogar in sexuelle Abenteuer, die sie im Grunde gar nicht haben will. Unlustvermeidung und Lustmaximierung sind Prinzipien, die der inneren Freiheit entgegenstehen. Mit diesen Antrieben umgehen zu können, ist der Schlüssel zur inneren Freiheit.
Begegnen dem Psychotherapeuten in seiner Praxis denn überhaupt innerlich freie Menschen?
Bonelli: Das ist eine gute Frage. Es gibt natürlich nicht nur Menschen mit Süchten und Ängsten. Es gibt auch andere Probleme der Psyche, etwa die Depression. Allerdings macht auch sie in gewisser Weise unfrei. Denn wenn man beginnt, alles negativ zu sehen, so ist das auch eine Form der Unfreiheit. Genau betrachtet, ist es ein Problem der psychiatrischen Patienten insgesamt, dass sie innerlich nicht frei sind.
Kann man also sagen, dass der Patient beim Psychiater im Grunde genommen nach Wegen zu seiner inneren Freiheit sucht?
Bonelli: Ja, eigentlich schon. Wenn ein Patient kommt, um von seiner Angst befreit zu werden, so ist allerdings nicht der Wunsch nach innerer Freiheit sein Motiv, sondern er will nicht mehr leiden. Letztlich wird er jedoch seine Angst durch Erreichen der inneren Freiheit überwinden. Die Therapie wird ihm einen Freiraum eröffnen, der es ihm ermöglicht, sich von der Angst zu lösen. Viele Patienten merken nicht, dass sie innerlich unfrei sind, sondern nur, dass sie leiden. Der Suchtpatient will ja nicht weg vom Alkohol, sondern nur von den unangenehmen Folgen des Alkoholismus. Bei der Sexsucht merke ich, dass die Patienten wegen der negativen Nebenerscheinungen der Pornographie davon wegwollen, aber erst nach der erfolgreichen Therapie sagen sie: Plötzlich sehe ich die Welt anders, kann Menschen anschauen und denke nicht an Sex. Das ist eine neue Freiheit. In der psychischen Störung selbst können sich die Menschen die Freiheit oft gar nicht mehr vorstellen.
Leben wir in einer Zeit, in der diese innere Freiheit besonders bedroht ist?
Bonelli: Aus meiner Sicht ja. Sie ist extrem bedroht. Ich bin jetzt 50 Jahre alt, habe aber noch keine Zeit erlebt, in der so wenig Vernunft waltet, so viel Irrationalität am Werk ist, wo so viel vorgeschrieben wird, was man zu denken hat, und wo Menschen so schnell verurteilt werden, die anders denken. So viele richten sich an dem aus, was man denken muss und nicht an dem, was wahr ist. In den letzten zwei Jahren ist das eskaliert.
Meinem Eindruck nach haben heute sehr viele Leute keinen Kompass mehr für ihr Leben. Ist das ein Grund dafür, dass man nicht mehr weiß, was zu innerer Freiheit führt?
Bonelli: Dass Orientierungslosigkeit überhand nimmt, dem stimme ich zu. Dazu muss ich ein wenig ausholen: In der Psychologie gibt es die Lehre vom Temperament und vom Charakter. Beide unterscheiden sich im wesentlichen in Bezug zur Freiheit. Charakter ist, was der Mensch aus freien Stücken aus sich selber macht. Temperament ist das, was er als Veranlagung in sich trägt. Etwa nach dem Motto: Einmal cholerisch, immer cholerisch. Drei Faktoren sind es, die den Charakter bestimmen: die innere Ordnung, also ein klares Wertesystem. Dann die Kooperationsfähigkeit, also das Vermögen, auf einen anderen einzugehen. Und Drittens die Selbsttranszendenz, also die Ausrichtung auf das Wahre, Gute und Schöne. Diese Triade macht den Menschen frei. Wenn man sich in dieser Richtung entwickelt, können einem die Außeneinflüsse nicht so nahekommen. Zurück zur Frage: Vielfach mangelt es am klaren Wertesystem.
In der pluralistischen Gesellschaft geht verständlicherweise solche klare Ausrichtung verloren. Hat die Corona-Krise da eine Rolle gespielt?
Bonelli: Die Corona-Krise hat die Menschen an der Achilles-Ferse getroffen, weil sehr viele Menschen schon vorher nicht mehr klar sahen, was wichtig und was unwichtig ist. Schon vorher haben viele Nebensächliches ins Zentrum gerückt: veganes Essen, das äußere Erscheinungsbild, der tolle Urlaub… Wir waren schon lange eine wertemäßig ausgehöhlte Gesellschaft. Deswegen hat uns jetzt die Corona-Krise so getroffen. Plötzlich stand die Gefahr im Raum: All das, was mir wichtig erscheint, ist mir jetzt genommen. Und das hat die Menschen in Angst versetzt, nicht zuletzt deswegen, weil die meisten keinen Halt mehr an höheren Werten haben: am Wahren, Guten und Schönen. Das Wahre wird heute vielfach durch das politisch Korrekte ersetzt. Um keinen Shitstorm zu ernten, hält man sich an das, was propagiert wird. Wir sind alle in Gefahr, in dieser Vorsichtshaltung zu denken. Und so gerät z.B. das Wahre aus dem Blick.
Fehlen uns also echte Werte?
Bonelli: Wahre Werte haben eine transzendente Dimension. Es geht, wie gesagt um das Wahre, Gute und Schöne. Was mir auffällt, ist, dass es gar keinen Diskurs über solche Fragen gibt. Es wird nicht darum gerungen, offen darüber diskutiert. Ganz im Gegenteil: Es besteht die Tendenz, den Andersdenkenden zu dämonisieren. Und noch ein Problem sehe ich: Wir sind heute geistig träge geworden sind – und dadurch allzu leicht auch geistig außengesteuert. Wir werden fortgesetzt mit Information überflutet. Die Smartphones bespülen uns laufend mit Neuem. Es bleibt gar keine Zeit zum Nachdenken und Bewerten.
Das erscheint mir auch als ein zentrales Problem unserer Zeit: Die meisten Menschen nehmen sich keine Zeit mehr zur Reflexion, also dazu, Ordnung im eigenen Inneren zu schaffen. Muss darunter nicht zwangsläufig auch die Erfahrung innerer Freiheit leiden?
Bonelli: Wir haben weder Zeit noch Muße, um über Argumente nachzudenken: Information jagt Information, und Desinformation ist weit verbreitet. Und so bleibt vielfach nichts anderes, als sich auf eine Richtung einzulassen. Wer regelmäßig den „Spiegel“ liest, wird eben dadurch geprägt.
Was merkt der Psychotherapeut von den heutigen Tendenzen?
Bonelli: Ein besonderes Phänomen ist die fortgesetzte Beschäftigung mit dem Smartphone. Der Mensch ist mit sich allein und beschäftigt. Und dadurch geht menschliche Kommunikation verloren. Es gibt immer weniger Begegnungen, man schaut einander weniger in die Augen. Die Kommunikationsfähigkeit leidet.
Alle Menschen tragen wohl irgendwie die Sehnsucht in sich, sie selbst und nicht nur trieb-, angst- oder außengesteuert zu sein. Wie kann man ihnen also dazu verhelfen?
Bonelli: Jeder sollte sich gut überlegen: Was beeinflusst mich? Was prägt mein Leben? Es gibt Menschen, die gehen täglich in die Heilige Messe und solche, die stundenlang Medien oder Pornographie – unlängst hatte ich einen solchen Patienten – konsumieren. Und all das macht etwas mit dem Menschen. Der erste Schritt zur Freiheit ist also die Analyse: Was prägt mich? Was beeinflusst mich? Und: Wem erlaube ich, mich zu beeinflussen? Das ist ein wesentlicher Schritt. Dann entdecke ich auch, was mich unfrei macht.
Dafür muss man sich offenbar Zeit nehmen…
Bonelli: Ja. Damit diese Suche fruchtbar wird, helfen ethische Werte, an denen man sich anhalten kann. Klassischerweise sind das die 10 Gebote. Man nehme sie einmal zur Hand, lese sie und frage sich dann: Wo reibt es sich am meisten? Welches Gebot stört mich besonders? Das liefert Ansatzpunkte zur Befreiung. Die Dinge, die uns unfrei machen, sind uns meistens nicht so bewusst und müssen ans Tageslicht befördert werden.
Das 20. Jahrhundert hat Regime gekannt wie den Kommunismus und den Nationalsozialismus, die Menschen unter starken Außendruck gesetzt und vielfach die innere Freiheit geraubt haben. Was hat sich unter diesen Umständen bewährt?
Bonelli: Ich habe solche Zeiten nicht selbst erlebt, wohl aber einiges über das Leben in dieser Zet mitbekommen. Bewährt haben dürfte sich besonders die Selbsttranszendenz in Form von Religion. Wenn es „da oben“ jemanden gibt, der es gut mit mir meint und der zeigt, wohin ich mich entwickeln kann, der sich darüber freut und uns mit Gnade beschenkt, dann entwickelt man eine Abwehrkraft gegen alles, was Freiheit raubt.
Das Gespräch mit dem Wiener Psychiater und Psychotherapeuten Dr. Raphael Bonelli führte Christof Gaspari.
Der Kongress „Innere Freiheit“ findet ab 19. Februar online statt. Anmeldungen sind zu richten an:
https://www.rpp-institut.com/o/innere-freiheit