Gerade erleben wir einen schmerzlichen Umbruch in der Kirche. Niemand weiß, was in 20 Jahren sein wird. Jetzt in die Prophetenrolle zu springen, ist prekär. Dennoch, wer an die Vorsehung Gottes glaubt, wird nicht umhin können, die Handschrift Gottes in diesen Ereignissen auszumachen. Wo wir nur Niedergang, Abbruch, Verfall sehen, schreibt Er.
Zwei Dinge sind klar. Erstens: Die Pforten der Hölle werden die Kirche nicht überwinden. Zweitens: Es wird keinen Rückweg in scheinbar bessere Zeiten geben. Man darf annehmen: Die besseren Zeiten kommen noch. Die Kirche wird verwandelt aus den Ruinen hervorgehen: kleiner, bescheidener, versteckter, ungeschützter, machtloser – dafür markanter, persönlicher, entschiedener, geisterfüllter und kraftvoller.
Doch der Weg der Läuterungen wird sich strecken, und es wird keine Heerstraße zum Himmel sein; eher schon werden wir uns auf einen „schmalen Weg“ (Mt 7,14) versetzt finden. Die bereit sind zu gehen, werden es tun im Modus des Hörens auf den lebendigen Herrn. Nicht wir retten die Kirche. Es ist Seine Kirche – Er ist es, der uns herausruft aus dem Scherbengericht über das konventionelle Christentum, an dem wir alle teilhatten. In kleinen Schritten, neugierig und mit wachsendem Mut gehen wir auf eine Gestalt der Kirche zu, die wir noch nicht kennen.
Die Konzepte, die gerade auf dem Tisch liegen, erscheinen zugleich zu schwach und zu stark. Zu schwach, weil die äußerlichen Reformen, die auf dem „Synodalen Weg“ vorgetragen werden, nicht genügen, um den Erdrutsch in die Pandemie der Gottlosigkeit aufzuhalten. Zu stark erscheinen sie, weil sie im Versuch, aus eigener Kraft das rettende Ufer der Moderne zu erreichen, das Kostbarste im Fluss versenken.
Losgelöst vom Staat
Die Zukunft der Kirche wird in der Aufkündigung einer 1500 Jahre alten Interessengemeinschaft von Staat und Kirche liegen. Christentum wird eine Option sein und keine Konvention. Konstantin hat die Kirche aus den Katakomben geholt, sie aber auch zu einem Teil der Staatsräson gemacht. Luther wollte zum Evangelium zurück und wurde vereinnahmt von Fürsteninteressen. Kierkegaard sah in der dänischen Kirche die innere Polizei des Staates. Heute muss sich die Kirche aus der Verfilzung mit der Macht lösen, um frei zu werden für die filterfreie Verkündigung Gottes und ein ungezähmtes Eintreten für die Menschen.
Entschieden für Jesus
Die Zukunft der Kirche wird sich aus der freien Entscheidung von Bekehrten rekrutieren. Ohne die Möglichkeit eines organischen Hineinwachsens in den Glauben zu leugnen, wird es immer mehr Christen vom Typ des freien und entschlossenen „Überzeugungstäters“ geben. Sie handeln und geben Zeugnis, weil sie auf ihrem Glaubensweg biographisch vor das Antlitz Jesu kamen – und an den Punkt, an dem sie sagten: Ich nehme Dich an als meinen Herrn. Ich gehöre dir.
Ein neues Miteinander
Die Zukunft der Kirche wird in der Überwindung der Aufspaltung zwischen einer passiven Zuschauerkirche und einer sie betreuenden Profikirche bestehen – und sie wird ein neues Miteinander von Laien und Klerikern mit sich bringen. Sie wird die unheilvolle (weil vom Evangelium nicht vorgesehene) Spaltung des Leibes Christi in Aktive und Passive, Oben und Unten, Wissende und zu Belehrende, Handelnde und Behandelte, Anbieter und Nutznießer, Akteure und Konsumenten überwinden. Diese Kirche lässt weder Klerikalismus, noch Laizismus zu, auch keine klerikalen Laien und keine laikalen Kleriker. „Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, (…)lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn!“ (Röm 12,10).
Mitten im Leben
Für die Zukunft der Kirche sind die Wohnzimmer wichtiger als die Pfarrheime, ohne zu leugnen, dass auch dort Gutes geschieht. Christentum kann nicht eingegrenzt werden in offizielle Orte, an denen es sich ereignet, während die Welt draußen unberührt bleibt. Konkrete Gastfreundschaft wird wichtiger sein als offizielles Mitgliedermanagement. Wir werden Christen sehen, die ihr Christentum als ihre ureigenste Sache begreifen. Ihren Häusern, ihren Wohnungen, ihren Beziehungen, ihren Medien und Mitteln, ihrem Lebensstil und ihrer Zeiteinteilung wird man die Enteignung durch das Evangelium ansehen.
Missionarische Jünger
Die entscheidenden Akteure in der Kirche der Zukunft und ihr Herzstück sind die missionarischen Jünger – Freundinnen und Freunde Jesu aus Bekehrung heraus. In der Erkenntnis ihrer Berufung zum allgemeinen Priestertum sind sie die eigentlichen Träger der Kirche. Durch die Weiheämter werden sie „bedient“, beschenkt und ausgerüstet durch die Verkündigung des Wortes und die Spendung der Sakramente. Ein missionarischer Jünger ist Subjekt des Glaubens; er hat Katechese empfangen, ist entschieden in der Nähe Jesu und gläubig identifiziert mit der Kirche; er realisiert die Gemeinschaft der Erlösten mit allen seinen Schwestern und Brüdern.
Er betet, dankt und lobt Gott. Er lebt aus dem Heiligen Geist heraus und in Beziehung zu Gott, dem Vater. Er folgt bereitwillig dem Willen des Herrn, den er gleichermaßen im Wort der Schrift, in der Stille seines Herzens und in Lehre und Tradition der Kirche erkennt.
Vorrang für Anbetung
Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, in der die Kontemplation der Geheimnisse Gottes vor der Aktion kommt. Es wird eine Kirche sein, in der es einen nie nachlassenden Eifer im Lernen und eine Fülle von katechumenalen Prozessen gibt, also der Integration in den Leib Christi und in den Zustand, da „alles neu“ (Offb 21,5) wird. Sie sind kognitiv, existenziell, lebensverändernd, erfordern Zeit und Stufen der Einweihung. Sie ereignen sich rund um die Sakramente und werden dort auch zum kultischen Höhepunkt vor Gott geführt. In der Schönheit von Liturgie feiert das Volk Gottes nicht sich selbst, sondern die reale Vereinigung Gottes mit uns Menschen.
Hören, was Gott sagt
Die Kirche der Zukunft wird die Heilige Schrift neu und anders lesen und dabei von evangelikalen Christen lernen, ohne deshalb in naiven Fundamentalismus zu verfallen. Sie wird die heiligen Texte als persönliche Anrede verstehen und das Wort Gottes gemeinsam mit nichtkatholischen, aber vom Wort bewegten Christen als lebendige Kraft entdecken und wertschätzen.
Eine neue Ökumene
Die Kirche der Zukunft wird Einheit vorwegnehmen, durch eine Jesus-Ökumene, die in der Hingabe an den einen Herrn zueinander findet und sich aneinander erfreut, ohne die Unterschiede zu verwischen. Diese Kirche wird evangelikal katholisch und auf eine überraschend neue Weise orthodox sein. Sie wird das Miteinander in Abgrenzungen durch ein einladendes Miteinander im jetzt schon Möglichen ersetzen und die Ökumene am grünen Tisch überholen durch Gemeinschaft im Gebet, Hören auf das Wort Gottes, durch Erhabenheit von Liturgien und das Mitreißende von Lobpreis, durch Verehrung des Heiligen, durch selbstvergessene Anbetung…
Spirituelle Zentren
Die Kirche der Zukunft wird lebendige Pfarrgemeinden brauchen, aber diese Pfarrgemeinden werden nicht flächendeckend existieren; sie werden auch nicht aus Pastoralplänen heraus entstehen, sondern organisch-geistlich, durch Charisma und Ausstrahlung – und sie werden neben anderen Formen von Gemeinschaft existieren, z. B. den neuen Geistlichen Bewegungen. Die neuen Gemeinden werden spirituelle Zentren sein, zu denen man sich regelmäßig, verbindlich und gemeinsam mit anderen aufmacht, um Gott zu ehren und beschenkt in den Alltag zurückzukehren. Die Kirche der Zukunft wird ein Netzwerk sein, das von der Digitalisierung profitiert, sich aber an Leuchtpunkten auf der Landkarte und im Terminkalender real trifft.
Kirche der Berufenen
Die Kirche der Zukunft wird Berufungen aus der geistlichen Dynamik aller hervorbringen und sie als kostbare Geschenke Gottes würdigen: Berufungen zum Priestertum, zu einem Leben nach den Evangelischen Räten und zum Sakrament der Ehe. Die Kirche wird nicht mehr darauf bauen, man könne sie mit Geld, Beton und Angestellten „machen“. In der Erneuerung wird man Abschied nehmen von einer „Kirche der Beamten und Funktionäre, der aufgeblähten Apparate und des dauerinstallierten Geschwätzes. Niemand braucht eine Kirche, in der Berufungen durch Anstellungen, Hingabe durch Vertrag und Vertrauen durch Kontrolle ersetzt werden.“ (Reform Manifest Neuer Anfang)
Gemeinden neuen Typs
Nicht Gemeinden produzieren Nachfolge Christi – die Nachfolge Christi produziert Gemeinden. Kristallisationspunkte einer zukünftigen Kirche werden Gemeinschaften der Nachfolge und der Anbetung sein. Wo geistliches Leben ist, wird Wachstum sein. Dort sind Charismen, dort ereignen sich Wunder. Um Menschen herum, die in glaubwürdiger Hingabe leben, werden Gemeinden neuen Typs entstehen.
Wesentliche Merkmale
In der Kirche der Zukunft wird es als konstitutive Elemente geben: a) das Amt, das sich neu als Dienst begreift, b) die Sakramente, umgeben von Katechese und katechumenalen Prozessen, c) authentische Verkündigung des Evangeliums, d) schöne, ergreifende Liturgie, in der die Liebe Gottes sinnlich erfahrbar wird, e) der Dienst an den Armen, Schwachen und Benachteiligten, e) Geistliche Begleitung, Coaching und Heilung von Individuen, f) Gastfreundschaft, e) Gemeinschaften (Gebetsgruppen, Glaubenskreise, Orden, geistliche Gemeinschaft usw.), die das Herz bilden und in der Anbetung sind.
Bernhard Meuser ist mit Kardinal Schönborn Mitinitiator des YOUCAT und war sein Hauptautor. Sein Beitrag erschien in Die Tagespost v. 18.3.22