Erzbischof Charles Chaput |
Während seiner Zeit als Bischof von Rom hatte Benedikt XVI. die Gabe, klar und deutlich auszudrücken, was Sünde ist, und die Menschen dazu aufzurufen, treu zu sein. Doch gleichzeitig beschrieb er diese Treue mit einer persönlichen Wärme, die deren Schönheit offenbarte und er entwaffnete damit die Menschen, die ihm zuhörten. Er sprach öfter über die heutige „stille Apostasie“ so vieler katholischer Laien und sogar vieler Priester. Diese Worte haben mich über die Jahre hinweg begleitet. Er sagte sie nämlich in einem Geist des Mitleids und der Liebe, nicht als Tadel.
Apostasie ist ein interessantes Wort. Es kommt vom griechischen Zeitwort apostanai. Es bedeutet: rebellieren oder im Stich lassen, wortwörtlich: „sich von etwas distanzieren“. Für Benedikt müssen Laien und Priester nicht öffentlich ihre Taufe verleugnen, um abtrünnig zu werden. Es genügt, dass sie schweigen, wenn der katholische Glaube es erfordert hätte, dass sie sich zu Wort melden; feig zu sein, wenn Jesus sie bittet, Mut zu zeigen; sich „abseits“ zu halten von der Wahrheit, wenn es darum gegangen wäre, sie zu leben, sich für sie einzusetzen, und, wenn nötig, für sie zu sterben. (…)
Daten des „Catholic Leadership Institutes“ weisen darauf hin, dass mehr als 70% der katholischen Bischöfe in den USA in die Kategorie „konfliktscheu“ fallen. Das scheint hoch zu sein, überrascht aber nicht. Bischöfe scheuen den Konflikt. Und aus Erfahrung verstehe ich das. Aufgabe der Bischöfe ist es, Hirten ihrer Leute zu sein im Geist der Nächstenliebe – und zwar für alle ihre Leute, auch für die besonders irregeleiteten, lästigen und schwierigen. Das erfordert Geduld. Es erfordert Umsicht. Und was das Umfeld betrifft, trägt die Bibel den Bischöfen auf, den Kaiser zu ehren, selbst den bösen. Mit anderen Worten, die weltliche Autorität zu respektieren und ihr zu gehorchen, es sei denn sie bricht mit zentralen Geboten des christlichen Glaubens.
Aber nicht jeder Konflikt ist schlecht. Manchmal ist er der einzige Weg für ein ehrliches Herz. Und manchmal ist der Aufruf zu Geduld und Vorsicht in Wirklichkeit eine Entschuldigung für einen Mangel an Mut. Je mehr wir uns bemühen, in eine Kultur zu passen, die immer feindlicher gesinnt ist gegenüber dem, was Katholiken immer geglaubt haben – und genau das haben wir in den letzten Jahrzehnten erlebt –, in dem Maß verleugnen wir mit Taten das, was wir mit Worten für heilig erklären. Kein Mensch und keine Kirche können lange mit geteilter Loyalität überleben. Aber genau in dieser Lage befinden wir uns derzeit. (…)
Wir dienen der Wahrheit, indem wir die Wahrheit auch aussprechen, so freudig und überzeugend wie möglich. Den Beweis liefert uns die Geschichte. Der christliche Glaube an den auferstandenen Jesus hat das Römische Reich bekehrt. Und was auch immer unsere Nation einst gewesen sein mag, heute ist sie in Gefahr, immer mehr zu einem Neuen Rom zu werden mit all der Unmenschlichkeit, die damit einhergeht. Die Frohe Botschaft veränderte damals den Lauf der Geschichte und gab einer ganzen Zivilisation Sinngehalt. Nun sind wir es, die Gott dazu aufruft, genau jetzt. (…)
Als ich zum Bischof geweiht wurde, sagte mir ein alter weiser Freund, ein Bischof müsse einerseits radikal und andererseits Museumskurator sein – radikal, was Predigt und Leben nach dem Evangelium anbelangt, aber Hüter des christlichen Andenkens, des Glaubens und jener Geschichte, die uns in das gläubige Volk über die Jahrhunderte hinweg integriert. Ich bemühe mich täglich, mir das in Erinnerung zu rufen. Der Grund dafür ist einfach. Die Vergangenheit tritt mit Verpflichtungen an uns heute heran.
Die liebste Illusion des amerikanischen Lebens besteht darin zu glauben, wir könnten uns immer wieder neu nach eigenen Vorstellungen entwerfen. Wir Christen sind da anders. Wir sind zunächst und vor allem eine Gemeinschaft von Leuten mit einer zeitlos gültigen Mission – und unser Stellenwert als Einzelne leitet sich von der Rolle ab, die wir in dieser größeren Gemeinschaft und Geschichte spielen. Wenn wir wiedererlangen wollen, wer wir als Kirche sind, wenn wir das katholische Leitbild erneuern und Sauerteig in der Welt sein wollen, müssen wir damit beginnen, unsere Herzen frei zu machen von den Grundannahmen einer Kultur, die uns immer noch vertraut, aber nicht mehr wirklich „unsere“ ist. Jetzt ist eine Stunde für Mut und Freimut, allerdings nicht die erste dieser Art.
Wir leben nicht in finsteren Zeiten, es sei denn wir machen sie dazu. Wir stehen einfach erneut in der Nacht vor der Auferstehung. Die Nacht geht vorbei. Und wir wissen schon, wie die Geschichte ausgeht. Wir müssen das nur in unsere Herzen einprägen. Dankbarkeit ist der Beginn der Freude. Wir leben in einer besonderen Zeit mit vielen Möglichkeiten und stehen nicht vor einer Niederlage…
Der Autor ist emeritierter Erzbischof von Philadelphia. Sein Beitrag ein Auszug aus seinem Vortrag vor dem „St. Francis De Sales Seminary“ in Milwaukee am 4.4.22.