2001 zum Erzbischof von Sydney in Australien ernannt, berief Papst Franziskus Kardinal George Pell 2014 zum Präfekten des Wirtschaftsekretariats an die Römische Kurie. Überzeugt von seiner Unschuld, ließ er sich 2017 von seinem Dienst in Rom beurlauben, um sich in Australien einem Gerichtsverfahren zu stellen, das ihm Missbrauch von zwei Chorknaben nach einem Gottesdienst im Dom vorwarf. Das Geschworenengericht, das den Fall zu entscheiden hatte, sprach den Kardinal im Dezember 2018 schuldig. Er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Während seiner Einzelhaft verfasste Pell ein Tagebuch, dessen zweiter Band jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt. Es behandelt den Zeitraum unmittelbar vor und nach der Abweisung seiner Berufung. In einem Berufungsverfahren vor dem australischen Höchstgericht wurde der Kardinal schließlich im April einstimmig (7:0) freigesprochen und rehabilitiert.
Im Folgenden seine Tagebucheintragung am Tag der Abweisung seiner Berufung und am Tag davor.
Hoffnung vor der
Urteilsverkündigung
Melbourne: Cardinal George Pell wird ins Gericht geführt (Juni 2019) |
Ich bin heute Morgen gegen 5.00 Uhr aufgewacht und habe die nächsten paar Stunden damit verbracht, etwas zu dösen und darüber nachzudenken, was ich in diesem vorletzten Beitrag schreiben könnte.
Natürlich hätte ich mich nie dafür entschieden, sechs Monate minus eine Woche im Gefängnis zu verbringen. Ich hoffe, dass es nicht noch länger dauern wird, und auf keinen Fall wünsche ich mir, dass es sich noch einmal wiederholt. Aber Gott hat es zugelassen und ich habe diesen Aufenthalt bei guter Gesundheit überlebt durch die Gnade Gottes und die Gebete und Ermutigungen von Tausenden, von Freunden und von der Familie. Ich habe ziemlich viel gelesen und so regelmäßig geschrieben, wie seit Jahren nicht mehr. Und auch meine Gebete habe ich regelmäßig täglich verrichtet, manchmal etwas dösig, oft abgelenkt.
Nach dem Matthäusevangelium bin ich dazu übergegangen, die Psalmen zu meditieren, und zwar vom ersten angefangen. Die Hälfte der Zeit jedoch, besonders wenn ich draußen im Hof war, benutzte ich die einfache John-Main-Methode, indem ich ein oder zwei Sätze immer wieder wiederholt habe: „Jesus, Sohn des lebendigen Gottes, mein Schöpfer, Erlöser, Bruder und Freund.“ Bei meinen Hofgängen betete ich jeweils den Rosenkranz.
Ich war nicht überrascht, als ich feststellte, dass die Ratschläge, die ich einst Priestern gegeben hatte, wenn sie unter Stress standen, auch bei mir funktionierten: eine Routine des täglichen Gebetes einhalten, nicht zu viel Nahrung oder Alkohol zu sich nehmen, tägliche Bewegung und regelmäßiger Schlaf in der Nacht, nicht tagsüber. Ich habe auch immer die tägliche Messfeier empfohlen, doch das war im Gefängnis nicht möglich, und Alkohol gab es auch nicht.
In den ersten Wochen, bis ich daran erinnert wurde, habe ich keine Übungen für den Oberkörper gemacht, aber dann habe ich diesen Mangel behoben.
Viele der Briefe, die ich erhalten habe, waren tief spirituell und gaben mir Kraft. Zu viele Briefschreiber waren mir gegenüber zu großzügig. Es wurden viele freundliche Worte des Dankes zum Ausdruck gebracht, die ich jedoch unter anderen Umständen nie erhalten hätte.
Das Schreiben hatte für mich einen therapeutischen Aspekt, wie es für viele Häftlinge der Fall ist, und ich hatte keine Schreibblockade. Ich habe mich sogar gefragt, ob nicht der Heilige Geist mir geholfen hat, wenn ich den Stift aufs Papier gesetzt habe. Ich habe nicht getippt und keinen Computer benutzt und es stand auch keines der beiden Geräte zu meiner Verfügung. Ich kann jetzt verstehen, warum Solschenizyns Romane so umfangreich sind.
Jeder meiner Tage lief nach einem festen Muster ab, das nur dadurch etwas variierte, indem ich die Übertragungen des AFL-Football, der Kricket-Länderspiele, der Tour de France und einer überraschenden Anzahl guter Dokumentationen, viele davon über die britische Königsfamilie, im Fernsehen verfolgte.
Um 21.00 Uhr hörte ich eine Frauenstimme über die Sprechanlage, die mir mitteilte, dass ich um 6.00 Uhr aufgerufen würde, um morgen in der Früh zum Gericht zu fahren, und dass es nicht nötig sei, etwas zu packen.
Allerdings habe ich zusammengepackt, vor allem all die Papiere, die ich gesammelt habe. Wenn meine Berufung keinen Erfolg haben sollte, werde ich sie bei meiner Rückkehr einfach wieder auspacken. Ich habe eine Mittwochszeitung bestellt, aber, was Gott geben möge, möchte ich sie nicht mehr hier lesen.
Ich will mit drei Fürbitten aus dem Morgengebet des Stundenbuches schließen:
Gott, unser Vater,
hilf uns zu erkennen, dass unsere Sorgen gering und kurzlebig sind; sie sind wie nichts im Vergleich zu der Freude, die wir haben werden, wenn wir im Hause des Herrn ankommen.
Bleibe bei uns, Herr, auf unseren Wegen. Nimm von uns unseren Stolz, unseren Zorn und unsere Wut; mögen wir dir in Sanftmut folgen; mögest du uns von Herzen demütig machen.
Bleibe bei uns, Herr, auf unseren Wegen. Gib uns die Fülle deines Geistes, den Geist der Sohnschaft; mache unsere Liebe zueinander großherzig und aufrichtig. Bleibe bei uns, Herr, auf unseren Wegen.
Die Berufung wurde abgewiesen
Mittwoch, 21. August 2019
Heute haben mich die Richter des Berufungsgerichts verurteilt und meine Berufung mit einer Stimmenmehrheit von 2:1 abgewiesen. Die Oberste Richterin des Obersten Gerichtshofes und der beisitzende Richter des Berufungsgerichts, beide Zivilrechtler, haben meine Verurteilung aufrechterhalten, und mit einem abweichenden Minderheitenvotum hat Richter [Mark] Weinberg dagegen gestimmt und meine Berufung als begründet bestätigt.
Ich war erstaunt und sehr bestürzt. Ich konnte nicht glauben, dass die Richter das Urteil der Geschworenen aufrechterhalten würden, nachdem sie die Beweise geprüft hatten. Zu meinen Anwälten sagte ich, dass dies ein „interessanter“ Beschluss sei. Ich war etwas überrascht, als sie mir zustimmten.
Ihr erster Gedanke geht dahin, beim Obersten Gerichtshof von Australien Berufung einzulegen. Ich will jedoch abwarten, was Bret Walker nach dem Lesen der Urteilsbegründung empfiehlt: 201 Seiten von Weinberg und zusammen 120 Seiten von den Richtern mit der Stimmenmehrheit.
Dies hat mein Vertrauen in die Gerichtsbarkeit von Victoria beinahe ganz zerstört, sodass ich bezweifle, ob überhaupt Erfolgsaussichten für das Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof von Australien bestehen würden (auch wenn dessen Sitz nicht in Victoria ist). Dieses Gerichtsurteil bringt eine Reihe von Konsequenzen mit sich, von denen die erste drei weitere Jahre im Gefängnis sind, wenn das nächste Berufungsverfahren nicht erfolgreich wäre, und dann ein Leben in Schmach und Schande. Der Premierminister hat bereits angekündigt, dass mir der Order of Australia aberkannt werden soll (dies liegt nicht in der Macht der Regierung), doch der Generalgouverneur kündigte an, dass er den Abschluss des Berufungsverfahrens abwarten möchte.
Die Australische Katholische Bischofskonferenz hat eine nichtssagende Erklärung herausgegeben mit dem Inhalt, dass sie das Urteil akzeptiere. Die römische Erklärung war jedoch hilfreicher und erkannte mein Recht an, in Berufung zu gehen, während Frank Rocca vom Wall Street Journal in Rom geschrieben hat, dass es in Rom viel Skepsis gegenüber den Beschuldigungen gibt und die meisten die Meinung vertreten, dass ich nicht schuldig sei.
Wir haben 28 Tage Zeit, um Berufung beim Obersten Gerichtshof von Australien einzureichen, drei oder vier Monate müssen eingerechnet werden, bis eine Entscheidung fällt, ob das Berufungsverfahren zugelassen wird, und weitere drei oder vier Monate (oder mehr), bevor das Berufungsverfahren eröffnet wird.
Terry Tobin spricht sich dafür aus, in Berufung zu gehen, und er wird meine Familie und Freunde konsultieren, und ich habe ihn gebeten, mit Pater Frank Brennan und seinem Kreis Kontakt aufzunehmen. Es wird natürlich wieder eine teure Angelegenheit werden, wenn das Berufungsverfahren weiter verfolgt wird.
Der Gefängnisdirektor, Nick Selisky, ist heute Nachmittag vorbeigekommen und hat mir mitgeteilt, dass er mich aus der Einzelhaft herausholen wolle. Die Anwälte meinten, dass ich vielleicht nach Ararat verlegt werden würde, aber er war der Auffassung, dass ich im Hochsicherheitsgefängnis in Melbourne bleiben sollte in einem lockereren Vollzug, bei dem ich auch mit anderen Häftlingen Kontakt hätte. Anders als in der Vergangenheit wird diesmal eine Änderung erfolgen, da meine Berufung abgewiesen wurde. Selisky hat wegen des Scheiterns des Berufungsverfahrens sein Mitgefühl ausgedrückt. Die Entscheidung bedeutet auch, dass sich die Möglichkeit, Auszüge aus diesem Tagebuch noch vor Weihnachten zu veröffentlichen, nun in Luft aufgelöst hat. Vielleicht wird die Veröffentlichung nie realisiert werden können.
Ich hatte geplant, es heute abzuschließen, aber nun werde ich vorerst weitermachen, wenn auch nur aus persönlichen therapeutischen Gründen.
Heute Nachmittag kamen Paul Galbally und Kartya Gracer zu einem sehr konstruktiven Gespräch vorbei, denn sie brachten die Urteilsbegründung von Weinberg mit, die sie bereits gelesen hatten. Sie waren geradezu begeistert von dieser Begründung und meinten, dass ich mich ebenfalls sehr darüber freuen würde. Sie vertraten die Auffassung, dass seine Urteilsbegründung genau dem entspreche, was wir für das Berufungsverfahren beim Obersten Gerichtshof von Australien brauchen. Offenbar hat Walker, der mir sein Mitgefühl übermitteln ließ, eine Methodik für das Berufungsverfahren unter Berücksichtigung der Anforderungen des Obersten Gerichtshofes von Australien entwickelt.
Vielleicht bin ich in diesem Moment zu pessimistisch, aber nach zwei aufeinanderfolgenden Misserfolgen, bei denen ich mir des Erfolgs sicher war, ist nun mehr Zurückhaltung angebracht.
Ich werde nun ein Programm der Lektüre und geistigen Beschäftigung für die kommenden Monate oder Jahre zusammenstellen müssen. Wie bei jedem Leiden, auch bei unwillkommenen und unerwarteten, kann alles dem Herrn zum Wohl der Kirche aufgeopfert werden. Das ist ein großer Trost. Nach drei weiteren Jahren im Gefängnis bin ich mir nicht sicher, wie viel Zeit mir noch bleiben wird und in welchem gesundheitlichen Zustand ich mich dann befinden werde, um weiterzumachen, dann schon beinahe als Unperson. Doch sich einer solchen Perspektive zu stellen, indem ich darüber schreibe, ist bereits hilfreich.
Ein grundsätzlicher Punkt wurde vom Gefängnisdirektor noch angesprochen: Ein Zwei-zu-eins-Urteil ist sicherlich als Grund für ein Berufungsverfahren günstiger als ein Urteil, das einstimmig gefällt worden wäre.
Dass die Richter und Geschworenen mich mehrheitlich verurteilt haben, wird den Skandal und den Schaden für die Kirche vergrößern.
Gestern habe ich dafür gebetet, dass wir erkennen, dass unsere Sorgen gering und kurzlebig sind, wenn man sie mit der Glückseligkeit im Himmel vergleicht. Heute bete ich einfach:
Jesus, hab Erbarmen. Maria, komm zu Hilfe.
Auszüge aus Die Berufung wurde abgewiesen – Band II.
Gefängnis-Tagebuch eines Kardinals
In den beiden bisher erschienenen Bänden des Gefängnistagebuchs lässt Kardinal Pell den Leser an sechs Monaten seines Alltags in der Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis teilhaben: an seinen Erfahrungen, Gedanken, Erinnerungen, seinem Gebetsleben, seinen Bemühungen, sich geistig und körperlich fit zu erhalten, an den Gesprächen, die er mit Besuchern führt.
Erstaunt erfährt der Leser, wie informiert der Kardinal über das sportliche Geschehen beim Cricket und Football ist und mit welcher Begeisterung er einschlägige Fernsehübertragungen verfolgt.
Da Pell das Feiern der Heiligen Messe verboten ist, begleitet er sonntags Gottesdienstübertragungen, nicht nur die katholische, sondern auch jene von Freikirchen, deren auf Christus zentrierte Predigten ihn oft beeindrucken.
Der Leser lernt einen gläubigen, weltoffenen, innerlich gefestigten Kirchenfürsten kennen, der gelernt hat, schwere Rückschläge im Leben aus dem Glauben zu bewältigen, ohne Hass gegen jene zu entwickeln, die ihm Unrecht getan haben.
CG
Die Berufung wurde abgewiesen – Band II, Das Gefängnistagebuch. Unschuldig angeklagt und verurteilt. Band I. Von George Kardinal Pell, Media Maria, 390 Seiten, 22,70€ bzw. 25,60