VISION 20005/2022
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Ein Kardinal auf der Anklagebank

Artikel drucken Das Zeugnis von Philippe Barbarin (Christof Gaspari)

Ein spannendes Buch. Es beschreibt, wie es dazu kam, dass der Missbrauch in Frankreichs Kirche publik und zum medial ausgeschlachteten Skandal wurde – und zwar aus der Perspektive jenes Mannes, den man zum Letztverantwortlichen gemacht hat: des Primas von Frankreich, Kardinal Philippe Barbarin, bis 2020 Erzbischof von Lyon. Ein Versuch, sich reinzuwaschen? Durchaus nicht, sondern das Bemühen, sich der Wahrheit anzunähern, eigenes Versagen zu erkennen, das schreckliche Phänomen des Vertrauensbruches in der Kirche, das Leid der Opfer ehrlich zu erfassen und die Frage nach der notwendigen Läuterung zu stellen. Besonders berührend, wie Barbarin um eine redliche Darstellung des Geschehens ringt.
Ich habe zwar das Buch, wie üblich vom Anfang bis zum Ende gelesen, denke aber im Nachhinein, dass es vielleicht nicht schlecht ist, mit Seite 131 (bis 144) zu beginnen, um den Autor besser kennenzulernen. Da schildert Barbarin seinen Werdegang: sein Elternhaus, seine Kindheit in Marokko, seinen Glaubensweg zum Pries­tertum, seinen Einsatz in einem Pariser Vorort, seinen pastoralen Einsatz an anderen Orten, seine Kontaktfreudigkeit, sein Engagement für die Armen, besonders verstärkt während seiner Jahre in Madagaskar…
Auf diese Weise bekommt der Leser einen besseren Zugang zur Person des Kardinals und zur Glaubwürdigkeit seiner Darstellung der Ereignisse. Der Stein des Anstoßes für den Skandal sind die Missetaten des Pries­ters Bernard Preynat, einer schillernden Persönlichkeit mit scheinbar großen pastoralen Erfolgen in den Pfarren, in denen er wirkt. Das dadurch erworbene Vertrauen missbraucht er durch Übergriffe an Kindern in den von ihm geleiteten Pfadfindergruppen. Von Barbarins Vorgänger war Preynat zwar schon aufgrund von Gerüchten gemaßregelt worden. Sie hatten ihn dann aber doch nach einiger Zeit wieder in den pas­toralen Dienst aufgenommen.
Barbarin wusste von diesem Geschehen, war sich aber im Unklaren, wie die Lage wirklich zu beurteilen sei. 2014 bekommt er erstmals Klarheit: Ein Mann teilt ihm im Nachsatz eines Dankbriefes mit, er sei als Kind Opfer von Preynat geworden. Die Vorfälle seien allerdings verjährt. Der Kardinal lädt ihn zu einem langen Gespräch ein. Dabei wird Barbarin erstmals mit dem Elend konfrontiert, in das Missbrauchopfer gestürzt werden. Er ist erschüttert.
2015 zeigt dieser Mann Preynat an – und damit wird die Lawine losgetreten. Missbrauch wird zum Thema. Weitere Opfer melden sich, nicht nur Opfer von Preynat. Die Affäre wird zum großen Skandal. Barbarin schreibt: „In gewisser Hinsicht war diese Explosion nützlich, denn sie brachte dieses Drama ins Rampenlicht. Nun musste man auf die Wahrheit zugehen.“
Einige Ungeschicklichkeiten, die er selbst zugibt, machen den Kardinal zur medialen Zielscheibe schlechthin. Aus der Affäre Preynat wird die Affäre Barbarin. „Der Verbrecher bin ich,“ schreibt der Autor, „weil die Medien es so sagen. Mein Foto wird in 14 verschiedenen Zeitungen publiziert, und jede sucht das häss­lichste. Das Gesicht und der Name von Preynat sind praktisch vergessen.“ Ab da kann der Kardinal sagen, was er will, es wird missdeutet… Interessant, das alles und Barbarins Reflexionen dazu nachzulesen.
Es kommt 2019 zu einem Prozess gegen den Kardinal und Mitangeklagte. Das Ergebnis: „Alle anderen Angeklagten wurden freigesprochen, ich wurde zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.“ Im Februar 2020 spricht ihn das Berufungsgericht allerdings frei. Nach diesem Freispruch entbindet ihn Papst Franziskus von seiner Aufgabe als Bischof von Lyon.
In den abschließenden Kapiteln des Buches stellt der Autor allgemeine Überlegungen an über den Umgang mit der Krise und Lehren, die sich für ihn und jeden einzelnen aus ihr ergeben. Besonders wichtig ist, was Barbarin über die Vergebung und den Trost, den er aus dem Beten der Psalmen geschöpft hat, schreibt.

Nach bestem Wissen und Gewissen. Der Fall – die Kirche – die Wahrheit eines Menschen. Von Kardinal Philippe Barbarin. fe-Medienverlag, 227 Seiten, 13,20€

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