VISION 20005/2022
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Mut: eine beson­ders heute wichtige Tugend

Artikel drucken Ankämpfen gegen Angst, Zynismus,Gleichgültigkeit

In unserer von den Medien stark beeinflussten Zeit, ist die Ver­su­chung groß, im „Mainstream“ mit zu schwimmen, zu tun und zu denken, was alle tun und denken. Eigene Wege zu ge­hen, erfordert Mut. Im Fol­gen­den Gedanken zu dieser Tugend.

Was bedeutet Mut in unserer modernen Gesellschaft?
Gérard Guerrier: Mut ist ein seltenes Gut. Der Philosoph Michel Lacroix schreibt, dass „Mut die demokratischste aller aristokratischen Tugenden ist“. Es gibt nur wenige, die ihn zeigen, was ihn edel macht, aber jeder kann ihn haben. Mut ist Widerstand in Bezug auf sich selbst, er ist keineswegs selbstverständlich. Er hängt vom Charakter und den Umständen ab. Im Gegensatz zu einigen befreundeten Neurowissenschaftlern, die – etwas karikierend – keinen Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Gehirn machen, bin ich der Meinung, dass Mut den Unterschied zwischen Tier und Mensch ausmacht. Tatsächlich gibt es zwei notwendige, wenn auch unzureichende Voraussetzungen für Mut: den freien Willen und das Gewissen. Der Gladiator, den man in die Arena trieb, indem man ihm ein Schwert in die Hand drückte, war nicht mutig. Er wurde gezwungen. Auch die Bärenmutter, die ihre Jungen gegen einen Angreifer verteidigt, ist nicht mutig. Sie folgt ihrem Instinkt.

Gibt es den Mut oder verschiedene Arten von Mut?
Guerrier: Wir alle haben eine Meinung zum Thema Mut. Als ich mein Buch schrieb, wollte ich wissen, ob man dasselbe meint, wenn man vom Mut eines Wins­ton Churchill, eines Bergsteigers oder den von Mutter Teresa spricht. Diese Erscheinungsformen des Mutes haben gemeinsame Wurzeln, aber unterschiedliche Ausdrucksformen. Als ich die Arbeiten anderer vor mir zu diesem Begriff studierte, entdeckte ich, dass es drei Arten von Mut gibt: den körperlichen Mut, den sozialen, bei dem man sich gegen seine Gruppe stellt, und den Lebensmut, der dem christlichen Mut nahe kommt, da es darum geht, gegen die eigenen Dämonen anzukämpfen. Der Mut ruht auf vier Säulen: Klarsicht, die Platon schätzte, Aufbruch, etwas Geheimnisvolles, beinahe Göttliches, Ausdauer: Der heilige Thomas von Aquin und Augus­tinus haben viel über die Geduld geschrieben, die bis zur Selbstaufgabe gehen kann, und das edle Ziel des Altruismus oder der Möglichkeit, ein besserer Mensch zu werden. Die Schwierigkeit bei diesem Konzept der Säulen besteht darin, dass der Missbrauch einer der Säulen den anderen schadet. Zu viel Klarheit führt dazu, dass Sie an Schwung verlieren…

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Mut ist nur insofern tugendhaft, als er im Dienste der anderen Tugenden steht.“ Was bedeutet das?
Guerrier: Der erste, der diesen Zusammenhang erwähnte, war wahrscheinlich der heilige Ambrosius… Mut ist nicht an sich tugendhaft. Er kann moralisch sein, amoralisch wie der Mut des Bergsteigers, der einen Berg besteigt, oder unmoralisch wie der Mut der Selbstmordattentäter im World Trade Center.

Kann man den Mut einer Person beurteilen?
Guerrier: Mut ist von Natur aus schwer fassbar und hängt vom Wertesystem jedes einzelnen ab. Mein Freund, der Philosoph Jacques Darriulat, sagt gerne, dass „nur Gott den Mut eines Menschen beurteilen kann, denn nur Er erforscht Herz und Nieren“. Der heilige Augustinus schreibt, dass es ohne Glauben keinen Mut gibt. Jankélévitch, der sicherlich nicht viel Zeit in der Kirche verbracht hat, kam ungefähr zur gleichen Feststellung, indem er die transzendentale Dimension des Mutes erwähnte.

Welche Hindernisse stehen dem Mut im Weg?
Guerrier: Es gibt zwei Arten von Menschen, denen es schwerer fällt, mutig zu sein. Zum einen die krankhaft Ängstlichen, weil sie zu intelligent sind und ihre Zeit damit verbringen, das Schlimmste anzunehmen. Andererseits sind es die Zyniker. Sie lieben den Spott. Ihre Devise ist: „Was solls.“ Diese beiden Haltungen harmonieren nicht mit dem für Mut notwendigen Engagement. Darüber hinaus schaden die Modernität und der Komfort, die unsere westliche Gesellschaft bietet, dem Mut. Im Zeitalter von „Alles ist sofort griffbereit“ ist es nicht notwendig, ausdauernd zu sein. Ein Internetanschluss und eine Kreditkarte reichen...
Unsere reichen westlichen Gesellschaften nehmen uns in einem lauwarmen Strom mit. Es gibt zwar ein paar Strudel, aber wozu schwimmen? Mut besteht heute oft darin, sich nicht von der trägen und warmen Flut der Modernität und des Komforts mitreißen zu lassen. Ich beobachte auch, dass der Mut anno 2021 nicht dem von vor einem Jahrhundert entspricht. Eines seiner heutigen Probleme ist der Durchblick. Wer hat heute den Mut, sich die Zeit zu nehmen, um sich mit Komplexität und Nuancen einzulassen? Nuancierte und komplexe Aussagen zu machen, bedeutet in unserer Zeit, Risiken einzugehen…

Was ist mit dem Mut im Alltag, diesem versteckten Mut?
Guerrier: Auch wenn es politisch nicht korrekt ist, bin ich der Meinung, dass der Mut im Alltag vor allem weiblich ist. Fernab von jeglicher Ideologie ist dies eine einfache Beobachtung: Wahrscheinlich spielt der Mutterinstinkt eine Rolle. Für das Glück ihres Kindes sind Frauen zu viel mehr bereit als Männer. So beweist eine alleinerziehende Mutter, die um 4 Uhr morgens aufsteht, um putzen zu gehen und ihre Kinder zu ernähren, natürlich Mut.
(…)
Sollte man auf die gleiche Weise versuchen, mutig zu sein, wie man versucht, altruistisch zu sein und Gutes zu tun?
Guerrier: Für mich ist Mut für zwei Dinge unerlässlich: für unsere eigene Erfüllung und für den Aufbau einer gerechten und glücklichen Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass wir ohne Mut zur eigenen Erfüllung gelangen können. Um der zu werden, der wir zu sein verdienen, haben wir alle ein Potenzial, das nicht ohne ein gewisses Maß an Risikobereitschaft und damit Mut verwirklicht werden kann.
(…)
Braucht man im Frankreich des Jahres 2021 Mut, um als Christ zu leben?
Guerrier: Da ich aus einer katholischen Familie stamme, kenne ich dieses Umfeld gut. Sich heute als gläubig zu bezeichnen, erfordert meinem Eindruck nach keinen Mut. Andererseits kann es Mut erfordern, als Christ zu leben oder Meinungen zu vertreten, die dem Mainstream widersprechen. So ist es heute nicht einfach, sich gegen die Leihmutterschaft auszusprechen und gleichzeitig komplex und nuanciert zu argumentieren. Ich persönlich halte mich in diesen Fragen aufgrund meiner Erziehung und meiner Generation eher für konservativ. Ich frage mich zum Beispiel immer noch, warum eine Abtreibung gesetzlich erlaubt ist, aber ein bei der Geburt durchgeführter Kindsmord mit 20 Jahren Gefängnis bestraft wird. (…) Weil also der Resonanzboden der Medien zu dem geworden ist, was er ist, glaube ich, dass sozialer Mut heute viel wesentlicher geworden ist als vor einem Jahrhundert.

Gérard Guerrier ist Autor von Du courage. Èloge à l usage des anventuriers et… des héros du quotidien, Éditions Paulsen, 284 Seiten, 21€ Das Interview hat Benajmin Coste für Famille Chrétienne v. 15.5.21 geführt.


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