VISION 20006/2022
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Den Glauben im Umfeld von Skepsis wiederherstellen

Artikel drucken Ãœber die Wahrheitskrise heute (David G. Bonagura)

Wie oft hört man heute in Gesprächen die Feststellung, es gäbe keine Wahrheit? Obwohl diese Aussage somit selbst keinen Wahrheitsgehalt haben kann, ist sie doch so etwas wie ein weitverbreitetes agnostisches Glaubensbekenntnis geworden. Wie es zu diesem Denken kam und wie man dagegen argumentieren könnte, versucht der folgende Artikel zu zeigen.

  
David G. Bonagura  

Katholiken zitieren zurecht gerne die Eröffnungszeile von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Fides et Ratio: „Glaube und Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“ Dieser Satz gibt den Ton an für die an­schließende Tour de Force, in der der heilige Papst einen „entschlossenen und eindringlichen Aufruf“ macht, dass „ Glaube und Philosophie die tiefe Einheit wiedererlangen sollen, die sie dazu befähigt, unter gegenseitiger Achtung der Autonomie des anderen ihrem eigenen Wesen treu zu sein“.
Die Enzyklika wendet sich an mehrere Zielgruppen, ein­schließlich jener der professionellen Philosophen, die „ein radikales Misstrauen gegen die Vernunft“ an den Tag legen, weil sie die universelle Wahrheit, das Ziel, das die Vernunft zu suchen versucht, als nicht existent oder unerreichbar erachtet haben. In dieser Ansicht hat die Vernunft kein Ziel; sie ist ein Kompass ohne magnetischen Norden, um ihn auszurichten.
Mit anderen Worten, die Philosophen haben den Glauben an die Vernunft verloren. Die komplementäre Einheit von Glaube und Vernunft, für die Johannes Paul eintrat, zerbrach zuerst mit der Unterminierung des Glaubens an Gott und als Folge davon mit der Projektion dieses Glaubens auf den Menschen als Sinn des Universums.
Der mangelnde Glaube der Philosophen an die Vernunft ist auf die allgemeine Bevölkerung übergegangen. Das Vertrauen in die Vernunft ist so erschüttert, dass heute einige Menschen in den Spiegel schauen und glauben, sie seien nicht das, was sie sehen.
Wie sind wir bis hierher gekommen? Der heilige Thomas von Aquin und seine scholastischen Kollegen sahen in der Vernunft die würdige Dienerin der Theologie in einer Synthese von Glaube und Vernunft. Durch die Vernunft können wir die Wahrheit der Dinge erkennen, indem wir sie betrachten; in den Worten des heiligen Thomas in der Summa Theologiae ist „Wahrheit die Übereinstimmung zwischen dem, was wir denken, und dem, was ist“. Durch den Glauben wissen wir, worauf alle Dinge ausgerichtet sind – auf Jesus Christus, der der Weg, die Wahrheit und das Licht ist.
Im Gegensatz dazu waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts so von der Macht der Vernunft überzeugt, dass sie den Glauben als legitime Quelle menschlichen Wissens über Bord warfen. Nur die Vernunft, so argumentierten sie, biete eine unvoreingenommene, unerschütterliche Grundlage für die menschliche Gesellschaft. Alles andere – Glaube, Autorität, Religion, Sitte – behindere die Arbeit der reinen Vernunft.
Ironischerweise bereitete der Dekan der Aufklärung, Immanuel Kant (1724-1804), ungewollt die Zerstörung des Prinzips der „sola ratio“ oder des Prinzips „Allein die Vernunft“ vor: Kant bestand darauf, dass wir die Wahrheit der Dinge nicht wissen könnten. Wir können äußere Fakten wie Größe und Gewicht kennen, aber wir können unsere Gedanken nicht mit Dingen an sich gleichsetzen. Auch können wir Gott nicht kennen, der jenseits der Sphäre der Vernunft wohnt.
Es bedurfte der unsagbaren Katastrophe des Ersten Weltkriegs, um aufzuzeigen, wie Kants Kastrierung der Macht der Vernunft das Prinzip „sola ratio“ zu einem aussichtslosen Unterfangen machte. Wenn die Vernunft die Dinge nicht wirklich wissen kann, kann es keine Wahrheit, keine universellen Standards, keine Hoffnung jenseits dessen geben, was wir sehen können.
Da nun die Mission der Aufklärung gescheitert war, brachte die zusammenbrechende Bewegung zwei Nachkommen hervor: die Moderne, die nun die individuelle Äußerung über die Vernunft stellte, und die Postmoderne, die meinte, alles Wissen hänge von der Sichtweise des Betrachters oder dessen Kulturraums ab. Der deutsche Historiker Oswald Spengler (1880-1936) hat dies in seinem Untergang des Abendlandes unverblümt so ausgedrückt: „Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist Ausdruck ihrer eigenen und nur ihrer eigenen Zeit.“
Diese gravierende Skepsis bezüglich der Wahrheit bleibt bis heute bestehen, wenn es um Fragen der Grundprinzipien, der Ethik, der Ästhetik und der Politik geht. Sie hat auch unsere Fähigkeit beeinträchtigt, selbst grundlegende Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen – wir haben jetzt „fake news“ und „alternative Fakten“. Auf subtilere Weise hindert uns das daran, die grundlegendsten Aussagen über die Realität zu machen: Überlegen Sie, wie oft wir Wahrheitsansprüche mit „nur“, „irgendwie“ oder, vielleicht am verwirrendsten, „irgendwie, aber nicht wirklich“ abschwächen. Ohne Wahrheit leben wir in einer „nicht-binären“ Welt, in der nichts wahr oder falsch ist; alles ist grau.
Aber es ist vor allem das Transgender-Phänomen, das den Wahrheitsbegriff auf den Kopf stellt: Anstatt den Gedanken mit dem Ding gleichzusetzen, unterwirft es das Ding dem Gedanken, bis hin zur Verstümmelung oder kreativen Operation, um die Realität an einen Gedanken anzupassen, der vollständig von der Realität entkoppelt ist.
Wie kommen wir aus diesem Schlamassel heraus? Skepsis, die ja Anti-Vernunft ist, kann nicht leicht durch Vernunft und rationale Argumentation besiegt werden. Etwas jenseits der Vernunft, jenseits der horizontalen Ebene des menschlichen Denkens, muss da durchbrechen, um das Vertrauen wieder herzustellen, dass es Wahrheit gibt und dass die Vernunft sie finden kann.
Johannes Paul schlägt die Antwort vor: „Es ist der Glaube, der die Vernunft dazu herausfordert, aus jedweder Isolation herauszutreten und für alles, was schön, gut und wahr ist, etwas zu riskieren. So wird der Glaube zum überzeugten und überzeugenden Anwalt der Vernunft.“ Der Papst meint den übernatürlichen Glauben, der die Vernunft erweitert und belebt, indem er ihr ein transzendentes Ziel gibt, auf das sie sich mit all ihren Kräften ausstrecken kann.
Aber für die Skeptiker der Vernunft ist der religiöse Glaube noch weiter entfernt. Wir müssen damit beginnen, Skeptiker davon zu überzeugen, den Glauben im allgemeinen Sinn des Vertrauens zu akzeptieren.
Trotz des methodischen Zweifels von René Descartes an seinen fünf Sinnen – er war der Vorläufer von Kant und der heutigen misslichen Lage – führen unsere alltäglichen Sinneserfahrungen – beginnend damit, dass man sich die Zehe anhaut – direkt zu einer Einübung in die Vernunft, der wir dank des Schmerzes, den wir fühlen, vertrauen können.
Obwohl der besondere Schmerz nur von der verletzten Person empfunden wird, ist Schmerz ein universelles menschliches Phänomen, ebenso wie Hunger, Müdigkeit und eine Vielzahl anderer Erfahrungen. Auf diese Weise haben wir eine allgemeine, transzendente Wahrheit gefunden, die nicht, wie die Philosophin Eva Brann in Feeling Our Feelings sagt, „kulturell verzerrt“ ist.
Das Nachdenken über die conditio humana ist ein Weg zurück zur Wiederherstellung des Glaubens an die Vernunft. Das ist vielleicht nicht das Argument, das sich aufdrängt, wenn man versucht, aufgeklärte Mitglieder unserer Gesellschaft zu überzeugen, die leugnen, dass es nur zwei Geschlechter beim Menschen gibt. Doch die menschliche Erfahrung, insbesondere die des Schmerzes, ist der sicherste Weg, Gedanken mit Ding gleichzusetzen, das heißt, die Wahrheit zu erkennen. Und wenn wir darauf vertrauen, dass wir mit dieser einen Erfahrung die Wahrheit erkennen können, können wir uns vielleicht durch die Wahrheit befreien lassen, um wieder der Vernunft zu vertrauen. 

David G. Bonagura, Jr. ist außerordentlicher Professor am St.  Joseph’s Seminary in New York und Autor von Steadfast in Faith: Catholicism and the Challenges of Secularism. Sein Beitrag ist in The Catholic World Report v. 10.11.22 erschienen.

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