„Über die Macht der Machtlosen“ lautet der Titel des Vortrags von Erzbischof Chaput, aus dem wir im Folgenden Auszüge bringen. Einleitend lädt der Vortragende die Zuhörer ein, sich auf YouTube das Lied „Tomorrow belongs to me“ aus der Biergartenszene des Films „Cabaret“ anzuhören. Es beginnt als sanfte Ode an die Natur und artet in einen Chor des Massenfanatismus aus. Die Szene sei das perfekte Portrait eines Götzendienstes, in diesem Fall „der Anbetung des Vaterlandes, der Wahn einer Herrenrasse…“
Erzbischof Charles J. Chaput | |
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Wenn uns die Geschichte der Menschheit etwas lehrt, dann: dass der Götzendienst eine unendliche Garderobe an Verkleidungen und eine endlose Anzahl von Opfern hat. Das Dritte Reich ließ rund 300.000 geistig und körperlich Behinderte einschläfern. Dann tötete es weitere 6 Millionen Juden, Zigeuner, sozial Ausgestoßene und politische Gefangene im Namen der arischen Rassenreinheit. Die politischen Erben von Karl Marx – Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot und andere – ermordeten 25 Millionen Menschen im Sowjetblock; 40 Millionen in China; 2 Millionen in einem Land mit nur 7 Millionen Einwohnern in Kambodscha; und weitere Millionen anderswo – alles, um eine neue Welt zu erschaffen und die Geschichte vom „Jahr Null“ an neu zu beginnen, gereinigt von jeglicher Erinnerung an die Vergangenheit, nach dem Modell des Menschen als seines eigenen Meisters; die Menschheit als der wahre und einzige Gott.
Die Leichenzählung der letzten hundert Jahre ist gut dokumentiert. Es schmerzt, sie noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Wir haben eine wichtige Lektion gelernt – oder zumindest glauben wir es. Und die Lektion lautet: Jede politische Partei oder Ideologie, die behauptet, eine neue Art von Menschen zu schaffen, eine sich selbst erhaltende, sich selbst erlösende Menschheit, betrügt. Es ist nur das neueste Kapitel eines sehr alten gnostischen Märchens.
Der Gnostizismus ist neben dem Christentum entstanden und hat sich manchmal mit ihm verflochten; und der moderne gnostische Eiferer – ob er sich nun Faschist, Nazi, Marxist oder sogar eine bestimmte Art von Fortschrittsgläubigen nennt – ist niemals wirklich irreligiös. Und er ist gewiss kein „Ungläubiger“, selbst wenn er das sagt. Er hängt nur einer besonderen Art von Glauben an. Er ist ein Mann, der davon überzeugt ist, dass er das geheime Wissen, die Gnosis, besitzt, die die Macht hat, eine kaputte Welt zu reparieren. Und er klammert sich an dieses heilige Wissen genauso religiös wie ein Mönch des 14. Jahrhunderts an seine Bibel.
Der Unterschied ist natürlich, dass der Gott des Mönchs der wahre Gott ist. Der Gott der Gnostiker ist es nicht. Jede neue Version des gnostischen Eiferers kleidet sein kleines Götterkind in eine neue Sprache mit neuen Zwangsmitteln. Aber im Grunde ist es immer die gleiche götzendienerische Lüge.
Der Mensch ist kein Gott, und es gibt kein geheimes Wissen, das ihn zu einem solchen machen könnte. Er hat die Wirklichkeit nicht erschaffen, und er beherrscht sie auch nicht. Und seine Lügen fordern immer einen hohen Preis an Leid, besonders von den Schwachen. Die Götzen, die der Mensch mit seinen eigenen Händen erschafft – seien es goldene Kälber oder politische Theorien – betrügen immer ihre Verehrer. Sie sind Vampire, die sich von den Hoffnungen und Ängsten der Menschen ernähren.
Aber wenn das so ist, warum sollte dann jemand an ein Regime der Lüge glauben? Warum sollten die Menschen so einen giftigen Unsinn wie die marxistische Wirtschaftslehre oder den Nazi-Rassismus schlucken? Die Antwort ist, dass die meisten Menschen, die einigermaßen intelligent sind, zwar nicht an ein System glauben, das auf Betrug beruht, aber das hält sie nicht davon ab, es zu befolgen. Sie sind schwach, eingeschüchtert, verzweifelt oder einfach zu faul, die Wahrheit zu sagen, bis es zu spät ist, um etwas zu ändern.
Viele Menschen – wahrscheinlich die meisten – werden versuchen, so normal wie möglich zu leben, solange es geht, unabhängig von der Art ihres politischen und kulturellen Umfelds. Die meisten Russen waren keine Bolschewiken. Die meisten Deutschen waren keine Nazis. Aber sie haben mitgemacht, um zurechtzukommen. Sie taten, was ihnen zum Überleben notwendig erschien in einer Zeit, in der die Welt rund um sie immer düsterer wurde.
Das Problem mit dem „Mitmachen, um mit dem Umfeld auszukommen“ ist Folgendes: Es führt dazu, dass sowohl das Hirn wie die Seele vergiftet werden. Ein Leben des Zurücksteckens, das einem Regime großer Lügen und echter Bosheit keinen Widerstand entgegensetzt, wird früher oder später zu einer Serie kleinerer Lügen unter einem dünnen Schleier von Alibis führen.
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Das moderne amerikanische Leben wird von Wissenschaft und Technologie dominiert, unter Ausschluss dessen, was wir einst „die Geisteswissenschaften“ nannten, was zur Erosion des Innenlebens der Menschen führt. Vor allem die Sozialwissenschaften haben ein sehr zwiespältiges Bild davon, was ein Mensch eigentlich ist. Sie sieht die Gesellschaft durch die Linse ihrer Werkzeuge und weniger als lebendige Gemeinschaft freier und unabhängiger Personen, sondern eher als eine Reihe von Managementproblemen, die gelöst werden müssen: eine komplexe Maschine, die ständiger Feinabstimmung und Anleitung durch Experten bedarf. Und das hat Konsequenzen.
Aus dieser Sicht sind die Menschen chaotisch und widerspenstig. Sie sind hartnäckig. Sie haben wenig nützliche Ideen. Sie verstehen nicht wirklich, was das Beste für sie ist. Sie brauchen gewissermaßen Brot und Spiele, die es ermöglichen, vernünftiges Wirtschaften und Regieren voranzutreiben. Das Ergebnis ist eine betäubte Bevölkerung, die an Schlafkrankheit leidet, die süchtig nach Schund-Medien, materiellem Müll, Fast Food und dem Internet ist. Mit anderen Worten, Menschen, die nicht denken können, Menschen, die angeleitet – und im Interesse der allgemeinen Sicherheit überwacht – werden müssen von den wirklich klugen Menschen… Und das ist das genaue Gegenteil dessen, was unsere Gründerväter für unser öffentliches Leben vorgesehen hatten. Es ähnelt auf unangenehme Art der Welt, über die sich C.S. Lewis in The Abolition of Man besorgt zeigte. Da sind wir jetzt.
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Der Titel, den ich heute Abend für meine Ausführungen gewählt habe, lautet „Über die Macht der Machtlosen“. Den habe ich einem der großen Essays des letzten Jahrhunderts entlehnt. Václav Havel, der Dramatiker und politische Dissident, schrieb Die Macht der Machtlosen 1978 auf dem Höhepunkt der kommunistischen Repression in seiner Heimat, der Tschechoslowakei. Der Inhalt ist brillant, aber Havels Hauptpunkt ist sehr einfach. Auch in einer Welt der Verfolgung und staatlichen Kontrolle ist der Einzelne nie wirklich machtlos. Er oder sie hat immer die Macht, nein zu sagen; sich zu weigern, Lügen zu glauben; und andere Menschen zu suchen, die die Liebe zur Wahrheit mit ihm teilen und bereit sind, für sie zu leiden. Havel war nie religiös. Aber sein Freund und Mitdissident Václav Benda war es. Und Benda, Václav Benda, ist der Mann, an dessen Beispiel wir uns erinnern sollten, wenn wir heute Abend hier weggehen.
Benda, Ehemann und Vater von sechs Kindern, lehnte es ab, der Kommunistischen Partei beizutreten, als er in den 1970er Jahren aus beruflichen Gründen dazu gezwungen wurde. Damit war Schluss mit der Karriere. Er wurde aus der akademischen Welt gejagt, zu einer minderen Arbeit nach der anderen gezwungen. Er wurde wegen seiner friedlichen Widerstandsaktivitäten schikaniert, die nach tschechoslowakischem Recht an sich legal waren. Er war eine prominente Führungspersönlichkeit in der Menschenrechtsbewegung Charta 77 und Mitbegründer von VONS, dem Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Angeklagten. Er wurde festgenommen und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.
Aber all das schreckte ihn nicht ab. Er und seine Familie hatten einen tiefen katholischen Glauben und sie lebten ihn intensiv. Zu Ostern 1985 schrieb Benda inmitten all seiner politischen Probleme und Regierungsstreitereien eine außergewöhnliche Verteidigung der katholischen Lehre über Scheidung, Empfängnisverhütung und Abtreibung – obwohl er wusste, dass ein Teil der tschechischen Kirche mit dem Regime kollaborierte und dass einige ihrer Anführer sowohl korrupt als auch feige waren.
Bendas gesammelte Werke, die auf Englisch als The Long Night of the Watchman veröffentlicht wurden, sind zutiefst bewegend und durchwegs vom Licht christlichen Mutes beseelt. Und dabei verlor er nie die Dankbarkeit für die Schönheit seiner Familie, das Geschenk seines Glaubens oder den Sinn für Humor über seine eigenen Leiden…
Und damit bin ich bei dem Punkt, auf den ich heute Abend gemeinsam mit Ihnen kommen wollte. All seine Energie, Kreativität und sein Mut flossen aus einer Quelle: seiner Identität und Treue als gläubiger katholischer Laie – die Berufung, die mit seiner Taufe begann und sein ganzes Leben prägte. Wie Péguy sagte, Freiheit ist ein System, das auf Mut aufbaut, weshalb Václav Benda sogar in seiner Gefängniszelle ein freier Mann war; frei, wie seine Verfolger es niemals sein können.
Die meisten von uns in diesem Raum wissen, dass die Taufe die Grundlage jedes anderen Sakraments und jeder christlichen Berufung ist, die Eucharistie Quelle und Höhepunkt des katholischen Lebens. Die Taufe aber ist die Basis. Und wir wissen, dass die Taufe drei Dinge bewirkt: Sie wäscht die Erbsünde weg; sie gliedert uns in die lebendige Gemeinschaft des Volkes Gottes, der Kirche, ein; und sie gibt uns Anteil am Leben der Heiligen Dreifaltigkeit. Mit anderen Worten, sie macht uns zu einer neuen Schöpfung, mit der Möglichkeit, durch die Lehre von Jesus Christus gottgefällig zu denken und zu handeln. Die Taufe gibt uns die Energie der Auferstehung Christi für unser Leben hier und jetzt und nicht nur in der Ewigkeit. Und all dies ist nicht unser eigenes Werk; es ist ein ungeschuldetes Geschenk, reine Gnade. Deshalb sind wahre Christen, gläubige Christen, immer eine Bedrohung für die Mächte dieser Welt.
Wir müssen den Bibelvers, Röm 8,31 in unser Gehirn einbrennen und in unseren Herzen tragen: „Wenn Gott mit uns ist, wer kann gegen uns sein?“ Ein Leben, das man in Angst lebt, ein Leben, das man damit verbringt, eine Art Konkordat mit Ideen und Verhaltensweisen zu suchen, die wirklich böse sind und jetzt in so vielen Teilen unserer Kultur hochgejubelt werden, ist niemals der Weg für einen Christen. Es ist immer eine destruktive Lüge. Wenn Václav Benda und andere wie er für die Wahrheit sprechen und arbeiten konnten, mit viel weniger Ressourcen und unter unendlich härteren Umständen als unsere sind – dann können wir sicher mindestens genauso viel tun, egal wie schwierig unsere eigene Welt wird.
Es ist also keine schlechte Zeit, Christ zu sein. Es ist vielmehr die beste Zeit, denn genau jetzt können wir beweisen, dass wir wirklich glauben, was wir zu glauben vorgeben, indem wir mit dem Zeugnis unseres Lebens predigen. Jesus sagte: „Ich bin das Licht der Welt.“ Er ist das einzig wahre Licht der Welt. Wir sind also nicht machtlos; wir sind niemals machtlos; weil wir in das Kreuz des Gottes getauft sind, der uns liebt. Und wenn Gott mit uns ist, wer kann dann gegen uns sein?
Der Autor ist Alterzbischof von Philadelphia, sein Beitrag ein Auszug aus dem Vortrag „On the Power of the Powerless“ veröffentlicht in The Catholic World Report v. 8.10.22