VISION 20002/2000
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"Denn nur einer ist euer Vater"

Artikel drucken Darf man zu Priestern "Pater" sagen? (Alain Bandelier)

Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel" (Mt 23,9). Dieses eindeutige Wort Jesu wirft zwangsläufig einige Fragen auf. Hält sich die Kirche nicht an diese ausdrückliche Weisung?

Es ist ein klares und eindeutiges Wort - und dennoch fahren wir fort, den Priester, den Bischof, den Abt eines Klosters und den Heiligen Vater selbst Vater zu nennen. Diese Begriffsverwendung ist keineswegs neu. Von den ersten christlichen Jahrhunderten an wurde dem Dienst oder dem Charisma der Ältesten und der Hirten eine echte Väterlichkeit zugesprochen. Im Umfeld der Eremiten und der ersten Mönche dürfte diese Bezeichnung üblich geworden sein; sie wurde zum Allgemeingut in allen Kirchen (man denke nur an die Popen der Ostkirchen) und Epochen. ...

Ein so universaler und fortdauernder Brauch kann nicht im Widerspruch zum Evangelium stehen. Und so findet man im Evangelium selbst diesen scheinbaren Widerspruch. Hat doch der heilige Paulus keinerlei Hemmungen, sich an die Christen seiner Gemeinden wie ein Vater an seine Kinder zu wenden.

Er ist sich seiner Vaterschaft bewußt, und er fordert sie auch deutlich ein: Hättet ihr auch ungezählte Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter. Denn in Christus Jesus bin ich durch das Evangelium euer Vater geworden" (1Kor 4,15).

Man darf niemals einen Vers vom Rest des Evangeliums isolieren. Einige verwenden den Matthäus-Vers, um den Gebrauch des Wortes Vater" in der Kirche in Frage zu stellen und das sakramentale Priestertum sowie die geistige Vaterschaft mehr oder weniger direkt anzugreifen. Im allgemeinen ignorieren sie die anderen Schriftstellen, die uns dazu zwingen, diesen Vers nicht als primäre Anweisung zu lesen.

Würde man diesen Vers wortwörtlich nehmen, so dürfte man auch in der Familie den, dem wir das Leben verdanken, nicht Vater nennen. Wie alle anderen auch, so nennt jedoch auch Jesus den Mann, der ein Kind hat, Vater": Oder ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn eine Schlange gibt..." (Lk 11,11) Er selbst ist es, der sich vor allem nach Seinem Leiden und Seiner Auferstehung an Seine Apostel wie ein Vater wendet, weil er das Leben schenkt, indem Er Sein Leben hingibt: Meine Kinder, ich bin nur noch kurze Zeit bei euch..." (Joh 13,33).

Da liegt, meiner Ansicht nach, auch der Schlüssel zu unserer Frage. Jesus weiß sehr wohl, daß alles vom Vater kommt. Und wir selbst können nur innerhalb dieser primären Vaterschaft Väter sein. Der Matthäus-Vers, der sich in keinem anderen Evangelium findet und der daher sehr kostbar ist, stellt sehr pointiert die Gegensätzlichkeit des einzigen Vaters, desjenigen im Himmel, und die Vaterschaft auf Erden heraus. Die irdische Vaterschaft ist relativ. Auf Erden spendet man nicht das Leben, als wäre man dessen Urheber - man gibt es weiter.

Dieser Vers drückt eine wesentliche Wahrheit aus: Mit Paulus (Eph 3,14) können wir vor dem Vater, von dem alle Vaterschaft kommt, niederknien. Und dieser Vers legt uns im Alltag folgende Haltung nahe: Einem Vater (einem Meister, einem Vorgesetzten) ist niemals die Ehrerbietung entgegenzubringen, die allein Gott und Seinem Christus gebührt.

Niemals auch ist Autorität oder Vaterschaft so auszuüben, daß man sich wie Gott gibt und die anderen an sich bindet. Im Kontext dieses Verses ist das ja der Vorwurf, den Jesus den Pharisäern macht. Damit ist aber nicht gesagt, daß wir keinerlei Fruchtbarkeit und letztlich keine Verantwortung hätten.

Im Gegenteil, die Größe der menschlichen Vaterschaft - und umso mehr die der geistigen - ist die Teilhabe an der einzigartigen himmlischen Vaterschaft. Ich bin nicht die Quelle, aber mit Gottes Gnade kann ich Brunnen sein.

Alain Bandelier

Famille Chrétienne v. 2.5.96

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