Als junger US-amerikanischer Priester setzte Father Joseph Fessio SJ seine Studien in Europa zunächst bei Henri de Lubac fort. Dieser empfahl ihm dann, seine Doktorarbeit über Urs von Balthasar bei einem jungen aufstrebenden deutschen Professor, Joseph Ratzinger, zu schreiben. 1972 traf Fessio in Regensburg ein und meldete sich bei Ratzinger an. In einem Interview blickt er auf diese Zeit und seine weiteren Begegnungen mit ihm zurück:
Ich kann mich an unsere erste Begegnung nicht erinnern, aber an die Vorlesungen und Seminare sehr wohl: Er (Ratzinger, Anm.) war faszinierend. Er sprach mit einer sanften Stimme, aber sehr deutlich und sehr langsam. Die Einsichten flossen einfach, links und rechts. Die Klasse war voll, eng gedrängt, hypnotisiert. Im Seminar dürften jeweils 15 bis 20 Studenten gewesen sein. Einer der Studenten hatte eine Präsentation zu geben und dann sorgte Ratzinger dafür, dass alle ihren Beitrag leisteten. Er fragte die Leute: „Was denken Sie darüber?“
Er erleichterte die Diskussion, besonders für mich. Mein Deutsch war sehr schlecht, und deshalb wollte ich eigentlich nicht sprechen. Ich konnte sowieso kaum etwas sagen. Er aber sorgte dafür, dass ich meine Kommentare abgeben konnte. Am Ende der ein oder zwei Stunden fasste er das gesamte Seminar mit vielleicht zwei oder drei schönen, langen, deutschen Sätzen zusammen und stellte die Kommentare aller in einen Kontext. Durch den Kontext machte er das, was sie gesagt hatten, sogar noch wertvoller. Er war ein wunderbarer Zuhörer. Er hörte zu und konnte sich an die Dinge erinnern. Er konnte in jedem dieser Seminare alles zusammenführen. Es war wie das Erlebnis einer Symphonie, bei der man hört, wie all die verschiedenen Instrumente hereinkommen und getrennt spielen, und dann fügte er sie am Ende irgendwie zusammen und machte ein Ganzes.
Diese Gabe ist, nebenbei bemerkt, meiner Meinung nach der Grund, warum er die perfekte Person war, die Papst Johannes Paul II. einsetzte, um die Erstellung des Weltkatechismus zu leiten. Dieser ist ja eines der großen Werke des 20. Jahrhunderts, an dem er maßgeblich mitgewirkt hat.
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Ich glaube, dass er 1978 zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde. Im Laufe seiner Karriere, die damals noch nicht so lang war, hatte er etwa 50 oder 60 Studenten betreut. Einige der Schüler beschlossen, ihn zu fragen, ob wir uns weiterhin jedes Jahr mit ihm treffen könnten. So gründeten wir den sogenannten Schülerkreis. Jedes Jahr suchten wir ein Kloster und ein Thema aus, das er gutheißen würde, und dann luden wir ein oder zwei Gastmoderatoren ein und gingen für ein Wochenende in ein Kloster.
Wir feierten zusammen die Messe, er hielt eine Predigt und wir aßen zusammen. Es gab einige Seminare und Zeiten der gemeinsamen Erholung, eine sehr herzliche, nette Gemeinschaft.
Lassen Sie mich Ihnen eine Anekdote erzählen. Bei einem dieser Treffen war das Sonntagsevangelium das Gleichnis von den 11-Stunden-Arbeitern. Und Ratzinger hielt die Predigt. Er sagte in dem Gleichnis, dass die Leute, die den ganzen Tag in der Hitze der Sonne arbeiteten, sich darüber aufregten, dass der Besitzer des Weinbergs den Arbeitern der letzten Stunde so viel bezahlte, wie sie selbst bekamen. Aber Ratzinger sagte, dass wir es sind, die gesegnet sind, unser ganzes Leben lang Jünger zu sein. Wir sollten uns freuen. Wir konnten beim Herrn sein und haben den ganzen Tag mit ihm gearbeitet, und wir sollten uns nicht darüber aufregen, dass diejenigen, die später kommen, auch den gleichen Lohn bekommen. Wir sollten darüber nachdenken, was wir erhalten. Das hat mich wirklich beeindruckt, und jedes Mal, wenn ich das Evangelium lese, kommt mir das in den Sinn.
Aus einem Gespräch mit Kevin J. Jones in The Catholic World Report v. 4.1.23, dessen Herausgeber P. Fessio ist.