Für einen Christen reicht es nicht, sein Leben nur nach Regeln des Wohlverhaltens auszurichten, wie viele meinen. Gebote sind zwar wichtige Wegweiser, sind aber letztlich nur verschieden formulierte Einladungen, dem einzigen ausdrücklichen Auftrag Jesu zu folgen: „Das ist mein Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Weltkatechismus: Keine Sammlung von Vorschriften für Wohlverhalten |
Warum müsst ihr Christen eigentlich immer alles unterscheiden?“ Mit diesen Worten warf eine nichtchristliche Freundin das Handtuch, nachdem sie mich intensiv über den Glauben ausgefragt hatte. Ihre Frustration ergab sich daraus, dass ich ihre Erwartung nicht erfüllt hatte: Sie dachte, Religion sei ein Regelwerk, um mit der Komplexität der Welt überforderten Menschen „einfache Antworten“ für ihr Leben zu bieten: Darfst du abtreiben? Nein. Darfst du Alkohol trinken? Nein. Darfst du tanzen gehen? Nein. Darfst du Miniröcke tragen? Nein. Musst du in die Kirche gehen? Ja. So in etwa hatte sie sich den Dialog wohl vorgestellt.
Dieses Vorurteil gegenüber der Religion ist im säkularen Umfeld weit verbreitet. Insbesondere der katholische Glaube ist dem Vorurteil ausgesetzt, diese „einfachen Antworten“ zu liefern, ein Gerüst, an dem sich der Gläubige entlanghangelt, um nicht in der Hölle zu landen.
Doch ist das so? Sicherlich gibt es einige Gebote, die uns vor gravierenden Fehlern bewahren sollen. Und gewiss gibt es Gläubige, die sich den Glauben so zurechtlegen, dass sie möglichst wenig reflektieren müssen: Eine Checkliste zum Heil, gewissermaßen, deren peinlich genaue Befolgung ausreicht, um dem Glauben Genüge zu tun.
Das Christentum selbst gibt ein solches Verständnis nicht her: Allein die Fülle an theologischen Werken, die sich mit der Lehre beschäftigen, beweist, dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Glauben zum innersten Selbstverständnis des Glaubens gehört. Nicht allein die Befolgung, auch die Durchdringung der Lehre gehörte von Beginn an zum Christentum.
Damit bietet es gerade keine „einfachen Antworten“: Als Christen, insbesondere als Katholiken, stehen wir einem sehr komplexen Weltbild gegenüber, weil wir unser Leben nicht primär durch ein Korsett aus Ritualen und Gesetzen formen. Stattdessen sind wir aufgerufen, fortwährend zu „unterscheiden“: Statt eine Gebrauchsanweisung für ein gelingendes Leben abzuarbeiten, müssen wir eigenständig das, was wir tun, darauf hin überprüfen, ob es vom Guten stammt oder nicht.
Wie aber sollen wir das konkret unterscheiden? Anders als andere Religionen erlegt uns die Botschaft Christi nur ein Minimum an verbindlichen Verpflichtungen auf: Ob wir Alkohol trinken oder nicht, wie wir fasten, was und wie viel wir beten; gewöhnlich ist das, was wir tun, in unser eigenes Ermessen gestellt. Wie kann ich also wissen, ob mein Leben gottgefällig ist oder nicht?
Einen Hinweis darauf gibt uns das Wort „Religion“. „Re-ligio“ bedeutet „Rück-Bindung“. Woran aber binden wir uns? Nicht an eine konturlose Kraftquelle, nicht an Ordnungen und Gesetze, sondern an eine Person: An Jesus Christus. An einen personalen Gott, der die Liebe ist.
Dementsprechend ist der letztgültige Maßstab, an dem wir uns, unsere Handlungen und unser Leben ausrichten sollen, die Liebe. Darum ist eine katholische Weltanschauung weitaus vielschichtiger als eine relativistische oder fundamentalistische: Die Ordnungen, an die wir uns halten, sind nicht beliebig, aber sie sind auch nicht in sich bereits Zweck. Sie gehen aus der Liebe hervor und führen zu ihr hin.
Das widerspricht womöglich unserer Intuition. Immerhin hat die Menschheit vor der Verheißung Gottes an das Volk Israel und Seiner Selbstoffenbarung in Christus nicht wissen können, dass Gott die Liebe ist. Sie hat lediglich einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Erfüllen von Vorgaben und der Gunst des Göttlichen erkannt. Die einfache Gleichung „Gesetz befolgt = Gott genüge getan“ ist also verständlich. Sie ist so natürlich, dass selbst säkulare Menschen intuitiv davon ausgehen, dass dies das Wesen von Religion sein müsse. Die Liebe als Maßstab wirkt demgegenüber umständlich und überkompliziert, wie es im Gespräch mit meiner Bekannten zum Ausdruck kam.
Andersherum betrachtet begründet sie aber eine große Weite: Da wir unterschiedlich sind und jeweils individuell in der Gottesbeziehung stehen, ist folgerichtig, dass wir die Liebe in unserem Leben auf unterschiedliche Weise verwirklichen. Wir sind daher eingeladen, keine vorschnellen Urteile zu fällen, sondern sowohl in unserem eigenen Leben als auch bei unserem Nächsten das zu entdecken und wertzuschätzen, was wahr ist und der Liebe dient.
Von dort aus, nicht von einer gesetzlichen Pflichterfüllung her, können wir dann identifizieren und beheben, was uns noch von Gott trennt, was der Liebe noch widerspricht.
Dies will eingeübt werden. Es erfordert spirituelle und rationale Disziplin. Denn es ist viel leichter, ein Urteil vom Gesetz her zu fällen als von der Liebe her. Jesus thematisiert dieses Problem immer wieder mit den Jüngern und versucht, den Menschen diesen Unterschied deutlich zu machen. Vielleicht am prägnantesten in der Perikope vom Ährenraufen am Sabbat: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht (Mk 2,27).
Dieser Satz fasst zusammen, wie wir den Maßstab der Liebe Gottes ansetzen sollen: Gott ist gekommen, um den Menschen zu erlösen, nicht, um ihn unter ein Joch aus Regeln zu zwingen. Mit derselben Haltung dürfen wir uns selbst und unseren Nächsten entgegentreten.
Die Autorin ist Mitarbeiterin von EWTN.