VISION 20003/2023
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Eine tiefe Verunsicherung hat sich breitgemacht

Artikel drucken Eine christliche Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit

Wie lässt sich die Stimmungslage in unseren Tagen beschreiben? Von froher Zuversicht ist sie nicht geprägt, wie fast alle Meinungsumfragen zeigen. Im Folgenden das Gespräch mit einem Psychotherapeuten und der Versuch, Ansätze für eine Erholung aufzuzeigen.
Als Psychotherapeut, Referent bei Radio Maria und Vortragender triffst Du viele Menschen und kommst mit ihnen über wesentliche Fragen ihres Lebens ins Gespräch. Was kennzeichnet Deinem Eindruck nach deren Stimmungslage?

 
Reinhard Pichler  

Reinhard Pichler: Auffallend ist die Verunsicherung. Das betrifft vor allem den Umgang mit Instanzen, denen bisher eine gewisse Autorität zugemessen worden war: die Medien, die Wissenschaft, politische Entscheidungsträger, aber auch die Kirche. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Erfahrung, die ich zuletzt bei einer Schulung gemacht habe. Da waren meine Zuhörer gläubige Muslime, die als Sicherheitskräfte arbeiten. Ich bilde sie aus, wie man mit Konflikten umgeht. Von ihnen war zu hören: Was da in Österreich geschieht, nehmen sie überhaupt nicht ernst. Sie sagen: Wir nützen die Möglichkeiten, die sich uns bieten, aus, aber was hier in Europa abgeht, ist für uns uninteressant.

Und wie wirkt sich diese Verunsicherung aus, führt das zu depressiven Verhalten?
Pichler: Nein, eher zur Aggressivität. Auch das Manische, der Hang zum Übertreiben ist viel stärker geworden. Während der zwei Jahre von Corona mit den vielen Lockdowns war hingegen die Depression weiterverbreitet. Jetzt schlägt das Pendel in die Gegenrichtung aus. Zusammenfassend: Meinem Eindruck nach ist im Gefolge der Corona-Zeit eine tiefgreifende Verunsicherung der Menschen zu verzeichnen. Sehr viele glauben den Autoritäten nicht mehr. In Richtung Verunsicherung wirkt auch die Spaltung der Gesellschaft, die sich nun eingestellt hat. Das reicht bis in die Familien, in die Paarbeziehungen hinein. Ich habe eine Frau betreut, die mit ihrem Partner während dieser Zeit so gestritten hat, dass das Gericht letztendlich entschied, das achtjährige Kind des Paares den Eltern wegzunehmen und in ein Heim einzuweisen.

Haben also die Corona-Maßnahmen viele aus der Bahn geworfen?
Pichler: Menschen sind in dieser Zeit vermehrt verschiedenen Süchten verfallen. Ich denke da zum Beispiel an eine Patientin, die sich daheim komplett abgesondert hat, dem Alkohol verfiel, dauernd betrunken war und ihr Kind – aber wirklich total – vernachlässigt hat. Mir ist wichtig zu sagen, dass es sich da nicht um Einzelfälle handelt.

Überbewertest Du da nicht die Pandemie?
Pichler: Ich habe immer auch Patienten mit schwerem Leid gehabt, mit schweren Traumatisierungen. Aber was sich diesmal abgespielt hat, war neu: eine kollektive Panik oder auch eine kollektive Psychose, die sich über fast zwei Jahre hingezogen hat.

Und was hilft Deiner Meinung nach in dieser Situation?
Pichler: Der Zugang bei der Behandlung ist wie immer das Bemühen, nach dem Handlungsspielraum zu suchen, den der bedrängte Mensch trotz allem hat. Und wie man diesen erweitern kann. Sobald das gelingt, gewinnt der Patient an innerer Sicherheit. In der Folge wird sein Selbstwert wieder gestärkt.

Abstand von der Bedrängnis zu gewinnen, ist also der Ansatz.
Pichler: Genau. Während der Corona-Pandemie gab es viele, die nicht mehr wussten, wie es mit  dem Job weitergehen würde, wie man mit den Spaltungen in der Familie umzugehen habe, wie man mit dem Leben daheim – die Kinder nicht in der Schule – zurechtkommen könne…

Aber jetzt geht es doch wieder recht normal zu…
Pichler: Jetzt wollen viele die versäumten zwei Jahre nachholen: Ausgehen und feiern, sexuelle Abenteuer, reisen noch und noch: Man will leben, leben, leben…

Ist das nicht eine Art, Freude ins Leben zu bringen?
Pichler: Da schaut einiges eher als Sucht aus. Cyber-Sex ist in der Corona-Zeit explodiert.

Auch bei Frauen?
Pichler: Ja, auch bei ihnen. Ich hatte vorher nie so viele Sucht-Patienten wie jetzt. Dabei war Sucht ein Thema, das mich seit langem beschäftigt. Seit Jahrzehnten arbeite ich mit „Anonymen Alkoholikern“ zusammen. Mittlerweile gibt es auch Anonyme Sexsüchtige. Das nimmt enorm zu. Ich habe den Eindruck, dass die Versuchungen stärker werden. Auch die dämonischen Angriffe nehmen zu. Sexuelle Entgleisungen gab es schon immer, aber das jetzige Ausmaß überrascht mich. Was Jugendliche heute filmen und verschicken, ist strafbar, und sie wissen es gar nicht. Und dabei habe ich eine durchschnittliche Klientel. Es kommen eben die Leute, die kommen. Es gibt eine große Sehnsucht danach, sich etwas Gutes zukommen zu lassen, einen inneren Mangel zu kompensieren. Typisches Beispiel: eine Frau, die sich dem Extremsport, mit abenteuerlichen Gefahren verschrieben hat. Sie sucht den Kick.

Welche Herausforderungen stellt das für Christen dar?
Pichler: Die Kirche wäre gut beraten, das zu tun, was sie immer getan hat: eine stabile Glaubensheimat zu bieten und Menschen in Not beizustehen. Den Modeerscheinungen nachzuhecheln, bringt nichts. Zwar fahren die Leute kurzfristig darauf ab, wie kürzlich auf den „Tattoo-Gottesdienst“, bei dem sich 250 Personen tätowieren lassen wollten. So etwas macht kurzfristig Aufsehen, aber bringt nicht wirkliche Freude oder eine Vertiefung im Glauben. Was wir brauchen, ist Sicherheit im Glauben, die Erfahrung: Gott ist da, Er wirkt, Er trägt uns. Wer sich dafür öffnet, der erfährt Freude.

Fordert das nicht jeden von uns heraus? Heuer zu Ostern habe ich mir das gedacht: die vielen Texte, die von Jubel und Freude sprechen, der Freudengesang „Halleluja!“, die Psalmen, in denen Gott gelobt und gepriesen wird – und blickt man dann in die Runde, sieht man kaum Gesichter, an denen all das abzulesen ist – auch an meinem nicht…
Pichler: Da spielt die kollektive Verunsicherung, aber auch die weitverbreitete Enttäuschung über die Schwäche der Kirche mit. Ich erinnere an die Art, wie sie sich in der Corona-Pandemie verhalten hat. Plötzlich musste ich erleben, dass mich die Kirche aussperrt. Wir sind vor der verschlossenen Kirchentüre gestanden und haben gehört, wie der Priester drinnen die Messe gefeiert hat. Und keine Kommunion zu Ostern! Und jetzt auch noch Sachen wie das Schweineherz in der Innsbrucker Kirche oder  die Beschlüsse des Synodalen Wegs in Deutschland: Das verunsichert zutiefst. Das hat der Kirche schwer geschadet. Das gilt für viele Gläubige, auch wenn sie sich selbst darüber keine Rechenschaft ablegen. Daher ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die authentisch vermitteln, dass sie Freude aus dem Glauben erfahren, dass Jesus ihre Freude ist. Es braucht Menschen, die sich für diese Freude öffnen und in dieser Hinsicht ansteckend wirken.

Wir beide wären eigentlich dazu berufen…
Pichler: Ja, wir glauben daran. Aber durch viele Erfahrungen in unserer Zeit ist diese Freude irgendwie schaumgebremst. Es ist schwieriger als noch vor ein paar Jahren.  Es bläst uns einfach der Wind stärker ins Gesicht.

Was ist also das Fazit von diesen Betrachtungen?
Pichler: Wir müssen viel mehr auf Jesus als auf die Welt schauen. Wir dürfen uns nicht verblenden, in Versuchung führen, nicht verwirren lassen.

Wir brauchen also ein viel intensiveres Glaubensleben…
Pichler: Ja, das ist besonders in unserer Zeit überlebenswichtig. Wir  bemühen uns darum, merken aber, dass es schwieriger wird. Wenn ich nach Medjugorje komme und mir dort viel Zeit für Gebet nehme, in meinen Glauben investiere, merke ich, wie es aufwärts geht. Kehre ich in meinen Alltag zurück, muss ich mehr Energie aufwenden, um zu beten, zu vertrauen, möglichst täglich in die Messe zu gehen… Dennoch lass ich mir die Freude nicht nehmen – aber es ist mehr Kampf.

Was empfiehlst Du also, um die Freude zu finden bzw. zu erhalten?
Pichler: Ich habe Hoffnung, weil ich weiß, dass Jesus uns erlöst hat, Er ist der Sieger, Er steht auf meiner Seite. Egal, wie schwierig die Situation gerade ist, wie groß die Versuchungen sind, wie verunsichert ich bin, Jesus trägt mich durch all das. Diese Grundüberzeugung trägt mich. Das heißt nicht, dass ich die Dinge auf die leichte Schulter nehme unter dem Motto: Der Herrgott wird’s schon richten.
Weil ich mit Jesus unterwegs sein will, nehme ich dann eben zur Kenntnis, dass ich jetzt auf einem steileren Wegstück bin, und brauche deswegen nicht missmutig werden. Wenn ich dann sage: Danke, Jesus, dass es jetzt eben steil ist, öffne ich mich für die Erfahrung, dass auch diese Wegstücke wichtige Teile meines Weges zu Ihm sind. Dann mag das Halleluja nicht so jubelnd sein, wie ich es mir wünschen würde, aber ich weiß, tief in meinem Inneren: Er, Jesus, ist die Basis meines Lebens, für die ich dankbar bin. Er ist der Herr meines Lebens.

Warum ist Freude gerade
in unserer Zeit so wichtig?
Pichler: Erstens, weil uns die Freude einen neuen Blick auf unsere Welt eröffnet. Darum gilt es, sich ganz bewusst für die Freude zu entscheiden. Denn ich kann durchaus auch das Gegenteil wählen. Es gilt, den Blickwinkel zu wählen: Das Glas ist eben halb voll und nicht halb leer. Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass das, was gerade geschieht, für etwas gut sein wird.
Die jetzige Schwierigkeit hat auch einen Sinn. Dieser Gedanke entspannt mich, erhöht meine Fähigkeit, Abstand zu nehmen, um wieder offen für Freude zu werden. Diese Freude ist ja nicht primär Lust, Jubel, sondern das tiefe innere, auch stille Frohsein, ein Zustand der Zufriedenheit. Es mögen sich dann immer wieder auch Sternstunden der Freude einstellen. Aber sie müssen nicht so dicht gesät sein.

Mag. Dr. Reinhard Pichler MBA, MSc ist Theologe und Psychotherapeut (Schwerpunkt: orthomolekulare Therapie). Mit ihm sprach Christof Gaspari.


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