Der französische Essayist und Philosoph Michel Onfray hat 2019 ein Buch veröffentlicht, in dem er sich mit dem Thema Diktatur auseinandersetzt und zu zeigen versucht, dass die westliche Welt unterwegs in eine totalitäre Gesellschaft ist. Im folgenden Interview erläutert er seine Sichtweise.
Übertreiben Sie nicht, wenn sie behaupten, das Frankreich von 2019 ähnle der Orwell schen Gesellschaft im Buch „1984“?
Michel Onfray |
Michel Onfray: Überhaupt nicht… Ich bin übrigens der Ansicht, dass Zweifel daran vielmehr beweisen, dass wir dort schon angelangt sind. Die Diktatur hat eine lange Geschichte. Die Bezeichnung stammt aus Rom, wo man einem Mann alle Macht übertrug, damit er ein bestimmtes Problem löse, eine Vollmacht übrigens, die er nach erfüllter Mission umgehend zurücklegte. Mit dem mongolischen Kaiser Dschingis Khan hat die Diktatur im 12.-13. Jahrhundert die westliche Hemisphäre verlassen – oder mit Tamerlan, dem Emir von Transoxianien im Jahrhundert darauf. Mit Savonarola im 15. Jahrhundert, dann mit Cromwell, Calvin, Robespierre und seinem „Comité de salut public“ kehrt sie wieder zurück. Allerdings denkt man bei Diktatur meistens an die braunen und roten Faschismen von Hitler, Lenin, Stalin, Mao, Pol-Pot. Unsere Unfähigkeit, die Dinge in großen Zeiträumen zu beurteilen, führt uns dazu, nicht mehr zu wissen, wie wir über die Diktatur außerhalb unserer jüngsten Vergangenheit nachdenken sollen.
Warum haben Sie Orwells Werk herangezogen, um eine Theorie über die Diktatur zu entwickeln?
Onfray: Meine Hypothese lautet: Orwell ist ein politischer Denker auf Augenhöhe mit Machiavelli oder La Boétie, und 1984 ermöglicht es, über die Ausprägungen einer Post-Nazi- oder Post-Stalinistischen Diktatur nachzudenken, und zwar in Formen, deren Existenz ich in unserer Zeit untersuche. Als ich meine Arbeit zusammenfassen musste, habe ich das Schema einer neuen Art von Diktatur entwickelt. Sie peilt eine bestimmte Zahl von Zielen an: die Freiheit zu zerstören; die Sprache verarmen zu lassen; die Wahrheit abzuschaffen; die Geschichte auszublenden; die Natur zu leugnen; Hass zu schüren; die Herrschaft anzustreben.
Wie sieht das im Einzelnen aus?
Onfray: Um die Freiheit zu zerstören, muss man: eine fortgesetzte Überwachung sicherstellen; das Privatleben ruinieren; das Alleinsein beseitigen; Freude an vorgeschriebenen Festtagen wecken; Einheitsmeinungen schaffen; Gedankenkriminalität anprangern.
– Um die Sprache zu verarmen, muss man: eine neue Sprache einführen; Doppeldeutigkeiten verwenden; Worte abschaffen; das gesprochene Wort forcieren; eine Einheitssprache einführen; die Klassiker aus dem Verkehr ziehen.
– Um die Wahrheit abzuschaffen, muss man: eine Ideologie lehren; die Medien instrumentalisieren; Fake News verbreiten; die Realität selbst erzeugen.
– Um die Geschichte auszublenden, muss man: die Vergangenheit auslöschen; die Geschichte neu schreiben; Erinnerungen erfinden; Bücher verbrennen; eine Flut von Literatur erzeugen.
– Um die Natur zu leugnen, muss man: den Lebenstrieb zerstören; sexuelle Frustration verbreiten; das Leben unter das Gesundheitsdiktat stellen; künstlich zeugen.
– Um Hass zu verbreiten, muss man: einen Feind schaffen; Kriege schüren; kritisches Denken Psychiatrie-verdächtig machen; den Menschen abschaffen.
– Um die Herrschaft anzustreben, muss man: die Kinder prägen; die Opposition steuern; mit den Eliten herrschen; durch den Fortschritt versklaven; die Macht verschleiern.
Wer sagt da, dass wir nicht längst dort angelangt sind?
Einige Christen haben den geistigen Widerstand gegen den Totalitarismus praktiziert und gegen ihn angeschrieben, wie etwa die Weiße Rose gegen die Nazis. Hat Sie das inspiriert?
Onfray: Ja, tatsächlich – und wie! Aber der Vergleich stimmt nicht. Unsere Diktatur greift den Leib nicht an, sie zermalmt die Seelen – was eine andere Art ist, auch den Leib zu zerstören, ihn aber am Leben zu lassen…
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Ist die Gender-Theorie das Produkt einer totalitären Gesellschaft?
Onfray: Sie ist das Produkt einer Gesellschaft, deren Ziel es ist, einen totalen Krieg gegen die Natur zu führen, um zu erreichen, dass alles, wirklich alles, zum Artefakt, zum Produkt, zum Gegenstand, zur Sache, zum Werkzeug, mit anderen Worten: zu einem Marktwert wird. Auf lange Sicht ist das die Perspektive eines umfassenden Kapitalismus, in dem alles machbar und daher käuflich und verkaufbar wird. Das bereitet auf den Transhumanismus vor, der die Endstation des Kapitalismus darstellt.
Auszug aus einem Interview, das Samuel Pruvot und Hugues Lefèvre mit Michel Onfray, dem Autor von „Théorie de la dictature“, erschienen bei Robert Laffont 2019 für Famille Chrétienne v. 16.5.19 geführt haben.