Am 8. Juni hat ein mit einem Messer bewaffneter Mann, der Syrer Abdalmasih H., der sich als Christ ausgab, sechs Personen in einem Park am See in Annecy verletzt, darunter vier Kinder und zwei alte Leute. Trotz schwerer Verletzungen konnten sie gerettet werden. Henri d’Anselme, unterwegs auf einem Pilgerweg durch Frankreich, griff den Attentäter an und konnte Ärgeres verhindern. Im Folgenden ein Interview mit dem 24-jährigen diplomierten Philosophen und Wirtschaftshochschulabsolventen über seine Motivation.
Was hat Sie an diesem Tag dazu bewegt, sich dem Angreifer zu stellen, obwohl sie dabei Ihr Leben riskierten?
Henri d’Anselme |
Henri d’Anselme: Ich habe gehandelt, ohne nachzudenken. Es war unmöglich, was ich da vor mir sah, geschehen zu lassen, ohne einzugreifen. Ein starker innerer Impuls hat mich angetrieben. Ich wusste: Jetzt musst Du handeln.
Sie sagten: „Ich sei nicht aus Zufall dort gewesen.“ Hat Sie die Vorsehung an diesen Ort geführt?
d’Anselme: Ja. Wenn man an Gott glaubt, dann stellt man in solchen Situationen so eine Frage gar nicht. Klar, dass der Gute Gott wollte, dass ich mich für eine halbe Stunde auf eine Bank im „parc du Pâquier“ setzte, um eine Nachricht zu beantworten, die Landschaft zu bewundern – und um mich dann zu Fuß auf diesen Weg zu machen. Es gab da andere Möglichkeiten, ich hätte einen kürzeren Weg nehmen können… Wenn man sein Leben mit den Augen des Glaubens betrachtet, wird einem bewusst, dass die Vorsehung tagtäglich eingreift – nicht nur in entscheidenden Momenten!
Sie haben im März „eine Rundreise zu Frankreichs Kathedralen“ angetreten. Ihrer Meinung nach sei das eine Vorbereitung für Sie gewesen. In welcher Hinsicht?
d’Anselme: Sie hat meine innere Offenheit für das Schöne und Gute gefördert. Nur sie ermöglicht es, in solchen Situationen so zu reagieren. Seit zwei Monaten bin ich erfüllt von der Geschichte Frankreichs, der Schönheit seiner Bauwerke, seines kulturellen, künstlerischen und religiösen Erbes. Ich vertiefe mich in die faszinierende Geschichte dieser Bauwerke, aber auch in jene der Christen, die ihr Leben bis zum Tod für ihren Glauben eingesetzt haben. Ich kam gerade durch Lyon, die Stadt der heiligen Blandine und des heiligen Bischofs Pothin, beide Märtyrer. Von all dem war ich getragen. Mir geht es um den Kern dieser Botschaft: Sich von dem, was groß und schön ist, zu nähren, hat tatsächlich eine Wirkung auf unsere Seele, unser Herz. Und dementsprechend handelt man dann…
Haben Bilder von Christen Sie besonders inspiriert und unterstützt?
d’Anselme: Bei dem Angriff hatte ich ein einziges Bild – wie einen Blitz – im Kopf: Arnaud Beltrame. Er hat sein Leben bis zum Ende hingegeben. Das war ein Vorbild. Ich sagte mir: „Wenn er das getan hat, muss auch ich es tun.“ (Anmerkung: Arnaud Beltrame war ein Gendarmerie-Offizier, der sich bei einem muslimischen Attentat freiwillig meldete, um gegen eine Geisel ausgetauscht zu werden. Kurz darauf wurde er vom Attentäter umgebracht.)
Hat das Pfadfindertum Sie bei dieser Heldentat beeinflusst? Was hat es Sie gelehrt?
d’Anselme: Die Größe des christlichen Pfadfindertums liegt in der Aktualisierung des ritterlichen Ideals. Das hat mich geprägt. Kennzeichnend ist Artikel 3 des Pfadfindergesetzes: „Der Pfadfinder hat die Pflicht, dem anderen zu dienen und ihm beizustehen.“ Das Pfadfindertum war für mich Anstoß, ein Ideal, eine innere Haltung zu pflegen und mich zu bemühen, als Christ zu handeln. Das ist im Grunde genommen nichts Spektakuläres. Es ist ein Lebensentwurf, dem man im Alltag folgt. Daher mag ich die Bezeichnung „Nationalheld“ überhaupt nicht. Ich habe nicht wie ein Held gehandelt, sondern so wie jeder Christ, der bemüht ist, nach dem Evangelium zu leben.
Was können Christen in diese Welt einbringen?
d’Anselme: Durch das Zeugnis unseres Lebens können wir zeigen, dass der Glaube an Gott etwas Lebendiges ist und zeitgemäß, ein Antrieb hin zum Großen und Schönen. Ich hoffe, dass mein Zeugnis das vermittelt hat! Wir sind zutiefst von Gott geliebt. Etwas erwartet uns nach dem Tod, wir müssen daher keine Angst um unser Leben haben. Was zählt, ist, sich für andere hinzugeben. Der Angreifer hat auch so getan, als wäre er Christ. Er hat sogar geschrien: „In Christi Namen!“
Wie haben Sie darauf reagiert?
d’Anselme: Es ist unmöglich, wehrlose Kinder im Namen Christi anzugreifen! Das ist die gegenteilige Botschaft schlechthin, ein dämonischer Akt. Als er das tat, hat er dem Herzen Christi einen Lanzenstich versetzt.
Haben Sie während des Angriffs gebetet? Und danach?
d’Anselme: Mitten im Getümmel ist es nicht möglich von der Vernunft her ein Gebet zu formulieren. Mein Hirn war quasi abgeschaltet. Soweit man von Gebet sprechen kann, war die Handlung an sich eher das Gebet. Daher habe ich auch behauptet, dass eine große innere Kraft mich angetrieben hat zu handeln. Sobald der Mann allerdings gebändigt war, bin ich zurück zu den verletzten Kindern, und das Erste, was ich da getan habe, war, innerlich ein „Gegrüßet seist Du Maria“ zu beten.
Christus lädt uns ein, unseren Feinden zu vergeben, die Wange hinzuhalten… Beten Sie für den Angreifer?
d’Anselme: Natürlich, für ihn muss man beten! Ich habe sofort erkannt, dass dieser arme Mann außer sich war, nichts Menschliches mehr an sich hatte. Er handelte unter einem äußerst schwarzen Impuls, der über ihn hinausging, während ich meinerseits unter einem grundsätzlich guten Impuls gehandelt habe… Um es kompliziert auszudrücken: Es war ein eschatologischer Kampf.
Auszug aus einem Interview, das Camille Lecuit für Famille Chrétienne v. 17.-23.6.23 geführt hat.