In Österreich gab es 2022 insgesamt 722 Organtransplantationen von „verstorbenen“ Personen. Die Anführungszeichen sind bewusst gesetzt, weil das Todeskriterium, das in diesem Fall herangezogen wird, nämlich der Hirntod, nach wie vor in Frage zu stellen ist, wie die folgenden Ausführungen aus einem Interview mit einer Medizinhistorikerin im Jahr 2018 deutlich machen. Es ist wichtig, dies in Erinnerung zu rufen.
Der Tod ist erstmal eine Metapher, schwer zu definieren, zumindest mit medizinischem Rüstzeug. Aber ab wann ein Mensch tot ist, das wird ja medizinisch definiert. Frau Bergmann, wann ist der Mensch tot, und wer entscheidet das?
Anna Bergmann: Jahrtausende galt jemand als tot, wenn er sich in eine Leiche verwandelt hat, was dann sinnlich erkennbar war oder es heute auch ist. Denn wir haben diese Todesdefinition nicht aufgegeben, dass nach dem Atem-Herzstillstand sich die Totenflecke einstellen, der Tote blass wird und die sinnliche Wahrnehmung eines Toten für alle irgendwie erkennbar war. Die Hirntot-Definition hat die Todesdefinition vorverlegt und behauptet eben, dass es sich nicht mehr um einen sterbenden, sondern bereits um einen toten Menschen handelt, wenn die Gehirnfunktion ausgefallen ist.
Das ist das große Problem, dass eben daraus nicht nur das Erscheinungsbild eines Hirntoten ein völlig anderes ist als das eines Herztoten, sondern mit der Organtransplantation verbunden ist dann ja auch die weiterhin erfolgende Pflege und medizinische Kontrolle des sogenannten Hirntoten. Ich ziehe das Wort eines „hirnsterbenden Menschen“ vor. Es wird Blutdruck gemessen, also die sogenannten Vitalzeichen wie Puls, Blutdruck, Atemfrequenz werden weiterhin gemessen und dokumentiert. Der sogenannte Hirntote wird weiterhin medizinisch gepflegt, er wird gewaschen und all das wird ja weiterhin praktiziert für den Zweck der Organentnahme. Die klassischen Todeszeichen stellen sich erst auf dem Operationstisch durch medizinisches Handeln ein, sodass der Hirntote sich in eine Herztotleiche auf dem Operationstisch verwandelt.
Würden Sie denn dann soweit gehen, zu sagen, dass der Hirntote jemand ist, der im Sterben liegt und durch die Organentnahme getötet wird?
Bergmann: Das haben Sie jetzt so gesagt. Auf alle Fälle würde ich sagen, dass es sich um einen sterbenden Menschen handelt, der für Zwecke Fremder auf eine bestimmte medizinische Weise für eine sehr, sehr große Operation vorbereitet wird. Es werden auch die Diskussionen auf internationaler Ebene, aber auch in Deutschland geführt, dass hier das Tötungstabu berührt wird, dass hier das Leichenschändungstabu berührt wird, also wenn es zum Beispiel um die Gewebeentnahme geht, die ja erst nach dem Herzstillstand erfolgt. Da können dann auch noch Augen, Hornhaut bis hin zu Haut entnommen werden, sowie Gehörknöchelchen, Meniskus und so weiter und so fort.
Es wird ein ganz wesentlicher Grundsatz der medizinischen Ethik verletzt, die davon ausgeht, dass der zu behandelnde Arzt ausschließlich zum Wohl des Patienten, mit dem er zu tun hat, zu handeln hat. Diese drei Aspekte, die werden durch die Hirntoddefinition völlig verschluckt (…)
Also hier wird eine Todesvorstellung suggeriert, die so auf jeden Fall falsch ist. Wenn Sie mich nach der Tötung fragen: Auf internationaler Ebene spricht zum Beispiel ein sehr renommierter Professor für Bioethik, Robert Truog, von „Justified Killing“, ganz klar, und sagt, dass Hirntote nicht tot sind. Das ist medizinisch mittlerweile sehr vielfältig bewiesen. Aber trotzdem geht er davon aus, dass hier eine Tötung gerechtfertigt wäre, um das Leben anderer Menschen zu retten.
Anna Bergmann, Medizin- und Kulturhistorikerin von der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Das Gespräch mit ihr führte Benedikt Schulz.
Quelle: Deutschlandfunk v. 5.9.18