VISION 20006/2023
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Liebeserweise heilen Kindheitswunden

Artikel drucken Gedanken über die Verletzlichkeit des Kindes

Verletzungen durch nahestehende Personen sind besonders schwerwiegend in der Kindheit, aber nicht nur da. Positive Erfahrungen mit wohlwollenden Erwachsenen können hingegen sehr heilsam wirken. Gespräch mit einer Psychologin.

Haben wir nicht alle – mehr oder weniger stark – in der Kindheit Verletzungen erlitten?

   
 
Bénédicte Sillon
 

Bénédicte Sillon: Wir alle sind Kinder einer verletzten Menschheit, entweder nur etwas aufgeschürft oder schwer verwundet. (…) Als Erwachsene, die gelernt haben, mit unseren Verletzungen umzugehen, können wir den Kleinen helfen, können wir offen für unsere Kinder oder Schüler sein. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich an eine Katechetin, die mich beiseite nahm und sagte: „Was du durchmachst, ist schwierig, ich weiß, dass du es überwinden wirst.“ Sie sprach mich als Person an, nicht als Kind. Ein Satz kann somit aufbauen oder zerstören. Ich bin davon beeindruckt, was Patienten aus unseren Sitzungen in Erinnerung behalten; es ist stets ein Kommentar, der sich an die Person in ihrer Einzigartigkeit richtet. Indem wir auf unseren Nächsten schauen und ihn lieben, können wir helfen, eine Verletzung der Liebe zu heilen. Wir sind mehr als „Resilienzlehrer“ (Lehrer des Durchhaltevermögens, Anm), wir sind als Menschen Brüder. Alle kleinen Liebeserweise heilen Kindheitswunden, wie bei der Restaurierung eines Kunstwerks. Auf einem impressionis­tischen Gemälde sorgt jeder kleine Strich mit dem richtigen Farbton, an der richtigen Stelle platziert, dafür, dass das Ganze seinen Glanz wiedererlangt.

Was sind die ärgsten Verletzungen?
Sillon: Besonders verletzend sind jene, die von besonders nahestehenden Personen verursacht werden. Inzest, sexueller Missbrauch, physische Miss­handlung, erlittene oder als Zeuge miterlebte Gewalttaten sind am schlimmsten. Trauerfälle sind eine schwere Prüfung, erzeugen aber nicht zwangsläufig eine Verletzung der Liebe. Das Kind fühlt sich nicht in seiner Liebesbeziehung verletzt, wenn eine nahestehende Person bei einem Unfall oder infolge einer Krankheit stirbt. Eine solche Verletzung tritt hingegen ein, wenn es beispielsweise irgendwo untergebracht oder von seinen Geschwistern getrennt wird oder wenn die Familie auseinanderfällt.

Soll man mit Kindern über deren Verletzungen sprechen?
Sillon: Man muss herausfinden, was man Kindern je nach deren Alter sagen kann und Bezug auf ihre Verletzlichkeit, ihre Bedürfnisse nehmen, nicht auf ihre Verwundungen…

Wie kann man dem leidenden Kind helfen? Einen Psychotherapeuten konsultieren?
Sillon: Nicht unbedingt. Kommt es zu einer Verletzung, wenn schon ein Teil der Persönlichkeit des Kindes gefestigt ist, und es ihm im Laufe der Zeit gelingt, durch Begegnungen oder Erlebnisse wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, wird es keine Therapie brauchen. Je mehr wohlwollende Erwachsene es außerdem umgeben und ihm das Leben mit seinen Schwierigkeiten und seiner Schönheit vor Augen führen, umso eher wird das Kind ins Leben zurückfinden. Wir sind auch Eltern für die Kinder der anderen. Ihnen zu Hilfe zu kommen, ihnen eine wertvolle Beziehung anzubieten, ihnen einfach zuzuhören, kann für sie der Beginn eines lebenbejahenden Weges sein.
(…)
Inwiefern hilft der Glaube, Verwundungen zu heilen?
Sillon: Verletzungen verhindert der Glaube nicht, aber Personen, die glauben, verfügen über zusätzliche Ressourcen. Der Glaube führt hinaus, er ermöglicht, über sich hinauszuwachsen. Er lenkt den Blick auf etwas Größeres, etwas Höheres, als man selbst ist. Er führt zurück in den Strom des Wachstums, denn die Realität des Menschen besteht in Wahrheit in seiner Ausrichtung auf den Schöpfer. Schließlich begünstigt der Glaube die Innerlichkeit, die Authentizität. Denn wenn man betet, verflüchtigt sich der Anschein. Wohlwollende, wahrhaftige Gespräche ohne Belehrung, im gemeinsamen Suchen mit anderen Gläubigen oder mit Priestern wirken heilsam. Voraussetzung ist allerdings, dass der Glaube nicht verstandesmäßig betrieben wird, sondern vom Herzen kommt. Dann entsteht wirklich eine Verbindung zur Verletzung, weil somit die Liebe im Spiel ist.

Bénédicte Sillon ist klinische Psychologin und unterrichtet an der école PsychoPrat sowie an der Notre Dame Fakultät (Collège des Bernardins).Vor kurzem erschien ihr Buch Les Blessures d’enfance. Les conaître, s’en remettre erschienen bei Mame, 14,90€.
Mit ihr sprach Olivia de Fournas für Famille Chrétienne
v. 21.10.23.



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