Einige Leser haben uns Engherzigkeit im Zusammenhang mit unserer Warnung vor bestimmten esoterischen Praktiken vorgeworfen. Schränken solche Warnungen die Freiheit der Menschen ein?
P. Clemens Pilar: In letzter Zeit sage ich bei meinen Vorträgen über das Thema Esoterik immer wieder folgendes: ,Ich bekenne, ich gebe Zeugnis von dem, was ich glaube.' Bei dieser Frage ist es so ähnlich wie bei einer Bergtour: Ich sehe ein Gipfelkreuz und weiß, daß ich dorthin will. Ich lade jene, die auch dorthin wollen ein, sich mir anzuschließen und beschreibe den Weg, der zu diesem Ziel führt, einen wunderbaren Weg. Allerdings kann ich niemanden zwingen, mit mir zu kommen. Da ich Erfahrungen mit dem Weg habe, weiß ich: Da ist ein Abgrund, da habe ich schon erlebt, daß Leute zu Schaden kommen. Daher ist es klüger, dort nicht zu gehen. Allerdings muß ich den Menschen die Freiheit lassen, es eventuell doch zu versuchen. Daher sage ich auch bei meinen Vorträgen, daß ich meinen Glauben bekenne. Das ist provokant. Denn jedes Bekenntnis ist ein Herausruf. Es fordert zur Stellungnahme. Aber es zwingt niemanden, sich dem anzuschließen. Auch Jesus zwingt nicht. Für mich ist die Stelle im Evangelium, bei der Jesus die Jünger aussendet, sehr beeindruckend. Er sagt ihnen, sie sollten verkünden: "Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um!" Wo sie aufgenommen werden, dort sollen sie bleiben. Wo man sie aber nicht aufnimmt, dort sollen sie gehen - und sogar noch den Staub von ihren Füßen schütteln. Das heißt: absolut nichts mitnehmen. Genauso müssen wir das sehen: Wir bekennen. Aber wir dürfen nicht sagen, dies oder jenes dürften die anderen nicht tun. Wohl aber dürfen wir auf die mit dem Tun verbundenen Gefahren hinweisen. Wer mir nicht glaubt, kann ruhig sagen, er glaube dem Astrologen. Darauf antworte ich, daß er das eben selbst verantworten müsse. Denn schließlich muß sich ja niemand vor mir verantworten, ebenso wie ich mich vor niemandem zu verantworten habe. Wir alle müssen uns vor Gott verantworten.
Eine klare Position vorgesetzt zu bekommen, erleben aber viele Menschen als Zwang.
P. Clemens: Es hat sich heute die Ansicht verbreitet, man dürfe nichts sagen, was polarisierend wirke. Diese Ansicht wird leider auch in der Kirche vertreten. Man muß - wie es einmal jemand bezeichnet hat - einen "konsensualen Dialog" führen. Das Motto: Das ist Deine Meinung und das ist meine Meinung, wir haben beide recht. Aber im christlichen Glauben wird das nicht gehen. Wenn ich sage: "Da sehe ich den Weg der Wahrheit," dann kann die Gegenmeinung nicht gleichfalls wahr sein. Da gibt es nun einmal ein Entweder-Oder. Sobald ich wirklich entschiedene christliche Verkündigung betreibe, werde ich polarisierend wirken. "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen," sagt Jesus, "sondern das Schwert." Also die Scheidung, die Unterscheidung. Heute ist das für manche schon zu viel. Es gibt eben Widersprüche. Es ist nicht das Gleiche, ob ich an einen persönlichen Gott glaube oder an eine apersonale Kraft. Es ist ein Unterschied, ob ich glaube, daß die Person ein unfaßbares Geheimnis ist, in keiner Weise physikalisch greifbar, oder ob ich sage, der Mensch sei eine Energie, eine Frequenz, die ich durch ein Verfahren behandeln kann. Da widersprechen sich eben das christliche und das esoterische Weltbild.
Schränke ich nun durch meine Überzeugung, die Wahrheit zu kennen, die Freiheit des anderen indirekt dadurch ein, daß ich unterstelle, er sei im Irrtum?
P. Clemens: Keineswegs. Die Freiheit wäre dann beschnitten, wenn ich vom anderen fordere, auch anzuerkennen, was ich für die Wahrheit halte. Verunsichern kann es den Gesprächspartner allerdings schon, vor allem wenn er selbst nicht zu seiner Identität gefunden hat. Vielleicht möchte er dann von solcher Provokation bewahrt bleiben unter dem Motto: Es haben ohnedies alle recht. Kommt dann einer daher und behauptet, es hätten nicht alle recht, wirkt das verunsichernd. Es stört aus der Bequemlichkeit auf.
Nun gibt es innerhalb der Kirche viele, die das Lehramt des Papstes ablehnen. Sie sagen, ein solcher Anspruch auf Letztentscheidungen schränke ihre Freiheit, die Lehren Christi umzusetzen, ein. Stimmt ihr Vorwurf?
P. Clemens: Ich bin zum Beispiel durch die Gesetze der Schwerkraft gravierend in meiner Freiheit eingeschränkt. Wenn ich mir wünsche, vom dritten Stock aus dem Fenster direkt in den Hof zu fliegen, bin ich eben tot. Will ich überleben, muß ich mich an die Naturgesetze halten, und es ist gut, sie zu kennen. Genauso verhält es sich mit den Geboten Gottes, die die Kirche uns weitergibt. Sie sind Überlebensgesetze. Sie behindern das Leben nicht, sondern ermöglichen es überhaupt erst. In meiner Kurzsichtigkeit halte ich allerdings manches für erstrebenswert, was eigentlich zerstört. Kurzfristig mag eine Berauschung ein Problem zudecken. Warum soll ich mich dann nicht betrinken? Die Antwort gibt mir der nächste Tag, wenn ich mich elend fühle und das Problem immer noch nicht gelöst ist.
Genauso ist es mit den Geboten Gottes. Sie sind vor einem weiten Horizont formuliert. Nehmen wir als Beispiel die Treue. Viele halten sie heute für unmöglich. Also hat man Lebensabschnittspartner. Für viele eine plausible Lösung. Übersehen wird, daß nach vielen Jahren eines solchen Lebens seelische Wracks überbleiben. Das Gebot Gottes, das sagt: Bleib treu!, ist mühsam. Das weiß auch der Ordensmann, der ja seiner Gemeinschaft die Treue zu halten hat. Im Laufe der Jahre aber wird man durch die Treue geläutert, erst durch sie lebens- und liebesfähig. Die Treue nimmt zunächst in gewisser Hinsicht die Freiheit. Nach Jahren aber entdeckt man, daß sie ein Weg in die Freiheit war.
In welcher Hinsicht?
P. Clemens: In die Freiheit von mir selber, von meinen Illusionen. Die größte Freiheit ist es, nicht mehr seinen unmittelbaren Wünschen folgen zu müssen. Wer auf dem steilen Weg, der zunächst Opfer bedeutet, geht, der erfährt das Gipfelerlebnis: ein Glücksgefühl, eine Freude, die keinen Kater kennt, nicht oberflächlich, nicht vorübergehend. Aber das ist Geheimnis.
Nicht den eigenen Wünschen zu folgen, soll also ein Weg der Befreiung sein: Um jemanden davon zu überzeugen, müssen Sie mehr darüber sagen.
P. Clemens: Beim Wunsch nach Sättigung, Karriere, Status, Gesundheit, Sexualität..., bei all dem geht es um die rein irdische Befriedigung meiner Bedürfnisse. Nur: Das irdische Leben allein ist dem Menschen zu wenig. Wenn ich nur dem nachgehe, was mir die Natur vorschreibt, verliere ich mich in der Natur. Und die Natur ist endlich. Und daher ist alles, was ich an rein irdischen Zielen vor Augen habe, in letzter Konsequenz bedroht. Meine Karriere kann morgen zu Ende sein, die Gesundheit ist zerbrechlich... Wenn ich mich also auf eines dieser Ziele konzentriere oder auf mehrere, zieht letztlich die Angst ein. Ich werde Opfer der ängstlichen Sorge.
Kommt das vielleicht daher, daß der Mensch in sich ein tiefes Wissen trägt, daß diese Güter menschlich nicht auf Dauer sicherzustellen sind?
P. Clemens: Ja. Daher die ständige Angst. Das kommt von Enge. Diese Welt allein, das Materielle, ist dem Menschen zu eng. Da kommt zum Beispiel die kirchliche Fastenordnung. Sie sagt: Laß einmal etwas weg von dem, was dir so wichtig erscheint, was du aber gar nicht zum Leben brauchst. Öffne Dich für andere Werte! Es geht dabei nicht um Leistungsaskese, sondern um die Öffnung für das, was von Gott kommt. Eine solche Haltung kann ich freiwillig durch Fasten einüben. Sie kann mir aber auch aufgedrängt werden durch Nöte, wenn mir im Leben etwas zerbricht. Dann beginne ich nach dem eigentlichen Leben zu fragen: Was ist mein Leben? Was ist meine Sehnsucht? Wo zielt mein Leben hin? Dann beginne ich nach dem Ewigen zu fragen und entdecke: Ich bin nicht nur für das Äußerliche, das Vergängliche geschaffen, sondern für das Ewige. Dann beginnt die Suche nach bleibenden Werten. Und dort beginnt meine eigentliche Freiheit.
Können Sie das etwas konkreter beschreiben?
P. Clemens: Es gibt für mich keine größere Freiheit, als unter dem Blick Gottes zu leben und zu wissen: Ihm schulde ich Verantwortung für mein Leben - nicht den Menschen. Rundherum erlebe ich so viel Gebundenheit gerade bei Leuten, die meinen, sie seien frei. Gebunden von der Sorge: Was werden die Leute sagen? Wieviele Verletzungen, weil man verurteilt worden ist, einem nicht bestimmte Fähigkeiten zugestanden werden, man nicht das gebührende Lob bekommen hat. Welche Freiheit, wenn man dem menschlichen Urteil gegenüber frei wird! Der Weg aus dem menschlichen "Du sollst" - mit der Mode, mit dem Zeitgeist gehen, mit dem Lebensstandard mithalten - ist eine ungeheuer große Befreiung. Das Wort Gottes und die Lehre der Kirche führen aus dem heraus. Ich werde entbunden, bin nicht dem Zeitgeist verpflichtet. Paulus sagt: Ihr seid nicht dem Zeitgeist verpflichtet, sondern Gott, dem Heiligen Geist. Dann kann ich leben, wie Gott es in mein Herz hineinlegt, fröhlich wie ein Franziskus, der ein Verrückter Gottes war.
Sind die Gebote dann so etwas wie Wegweiser zu dieser Freiheit?
P. Clemens: Ja, sie haben diese Freiheit im Auge. Sie ermöglichen erst, daß das Leben gelingen kann. Wenn ich ein Auto habe und nicht weiß, wie es funktioniert, kann ich nichts damit anfangen. Ich muß das Auto, die Gesetze, nach denen es funktioniert, kennen, um es zu benützen. Genauso ist es mit dem Dasein des Menschen. Er hat sich ja nicht selber gemacht, sondern kommt aus dem Geheimnis Gottes. Daher brauchen wir das Gebot Gottes. Ich muß Gott fragen, damit ich weiß, wer ich bin und wie ich richtig leben kann.
Wieso haben wir heute eine so negative Optik auf das Angebot der Kirche? Warum erleben wir ihre Gebote vor allem als einengend und als beschwerlich?
P. Clemens: Das hat mehrere Ursachen. Da ist zunächst der "alte Mensch" in uns, der es nicht mag, wenn ihm gesagt wird, was er tun soll. Ich will selber Gott sein. Das ist in uns allen drinnen, und jeder hat Phasen in seinem Leben, wo das stärker zum Ausdruck kommt. Dann kommt wohl dazu, daß in der Kirche wohl auch zu wenige Zeugen sind, die vorleben, daß ein Weg nach den Geboten Gottes ein Weg in die Freiheit ist. Wenn man heute einen Franziskus so ins Licht hebt, so ist das darauf zurückzuführen, daß er so ein leuchtendes Beispiel ist. Er wollte nichts anderes tun, als das Evangelium leben. Das sollte seine Ordensregel sein. Diese berührende Bitte an den Papst: "Dürfen wir nach dem Evangelium leben?" Keine Rebellion, keine Reformation!
Wir sind als Christen also als Zeugen gefragt, daß der Weg nach den Geboten Gottes ein Weg in die Freude ist. Dann kommen die Leute und fragen. Wer niedergebeugt, bitter, moros ist, den fragt niemand. Dabei ist es eigentlich einfach, diesen Weg zum Leben zu finden: Nicht durch noch mehr tun, noch mehr managen, durch Zaubereien oder sonstige Praktiken. Meine Erfahrung: Gott führt mich an die Grenze des Lebens, wo ich selbst nichts mehr kann, wo rundherum alles zerbricht - und dort erlebe ich die totale Befreiung. Gott ist da. Das ist alles, was ich wissen muß.
Das Gespräch führte Christof Gaspari.