VISION 20006/2023
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„Warum willst du dir das Leben nehmen?“

Artikel drucken Ein Gefangener entdeckt seinen Wert (Manfred Müller)

Ein Deutscher macht im 19. Jahrhundert in Moskau Karriere als Arzt: Friedrich Joseph Haass, in Russland Fjodor Petrowitsch genannt. Aber nicht deswegen bleibt er der Nachwelt in ehren­der Erinnerung, sondern weil er sich dort der Entrechteten, vor allem der Strafgefenangenen angenommen hat. In einem kürzlich erschienenen Buch wird davon berichtet:

 
Friedrich J. Haass  

Man schätzt, dass – neben all den Kranken in den Spitälern – allein circa 200.000 Gefangene von Fjodor Petrowitsch persönlich betreut wurden. Kranke, die im Spital oft keinen Platz mehr fanden, nahm er mit sich nach Hause, um sie dort zu pflegen. Woher, so mag man sich fragen, kam die Kraft zu dieser Hingabe? Zu dieser täglich praktizierten Selbstverleugnung, die nichts Verkrampftes, nichts Knechtisches an sich hatte?
Die Antwort ist schlicht, sie lautet: aus dem Blick nach oben, nach dorthin, wo die allmächtige Güte wohnt. „Immer ,sursum corda". Wir müssen unsere Herzen erheben,“ so schreibt der gute Doktor seiner Schwester nach Deutschland, die den Heimgang ihres Mannes betrauert. Immer sursum corda.  
Am 16. August 1853 stirbt der heilige Doktor 73-jährig in Mos­kau. Er ist so verarmt, dass der Staat die Begräbniskosten übernimmt. In seinem Testament hatte Fjodor Petrowitsch darum gebeten, „mich auf Kosten der Kirche zu begraben, mit einem Zweispänner und ohne allen Schmucke.“ 20 000 Menschen begleiten den Trauerzug. „Ganz Moskau hat Haass zu Grabe getragen: Russisch-Orthodoxe und Altgläubige, Prominente und Arme; sie alle weinten von Herzen, weil ein guter Mensch von ihnen gegangen war.“
Am Grab werden keine Reden gehalten, so eine Zeitzeugin: „Wahrscheinlich begriff man, dass Worte nicht imstande waren wiederzugeben, was alle wussten, noch das ausdrücken konnten, was alle fühlten.“
Zum Beispiel dies:
„Ich musste an die Zeit denken, als ich zu lebenslänglich verurteilt worden war, wie schlecht es mir auf der Etappe gegangen ist und wie ich begriffen habe, dass ich aus Sibirien niemals freikomme. Dabei war ich noch jung und gesund, Man fesselte und kettete uns zu sechs oder sieben Mann an den Eisenstab. Damals habe ich mir geschworen, dass ich mir bei der nächsten Gelegenheit was antue, egal – die Sehnen durchbeißen und verbluten oder mit dem Kopf gegen die Mauer rennen und krepieren.
Als die Etappe am Rogoshski-Tor ankam, holte uns "der heilige Doktor" ein, so nannten die Gefangenen den Doktor Haass. Gesehen hatte ich ihn vorher nie, aber viel von ihm gehört. Wir standen da und warteten aufs Kommando. Da hielt eine Droschke, aus der stieg ein großer Mann aus, ging auf Arrestanten zu und teilte ihnen was aus. Auch zu mir kam er und gab mir ein warmes Brötchen und sagte: "Geh mit Gott, mein Täubchen, Gott schütze dich!"
Und als er das sagte, verschlug es mir die Sprache, noch niemand hatte zu mir Täubchen gesagt, nicht mal meine eigene Mutter. Und dieser Alte schaute mich zärtlich an und redete auf mich ein: "Mein Lieber, schlecht hast du es, aber zermartere dich nicht, vielleicht wird sich noch alles zum Besseren wenden." Er umarmte und küsste mich und strich mir mit der Hand übers Haar. Wie erstarrt stand ich da, betrachtete das Brötchen in meiner Hand, weinte und dachte: "Warum willst du dir das Leben nehmen, wenn es auf der Welt Menschen gibt, die so viel Mitleid mit dir haben?"
Tausende von Werst habe ich zurückgelegt. Viel Zeit ist seitdem vergangen, aber an dieses Brötchen denke ich bis heute…“

Aus Beeindruckende Zeugnisse christlicher Ärzte, media maria, 190 Seiten, Besprechung S. 20-21.

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