VISION 20006/2023
« zum Inhalt Schwerpunkt

Auch in der Demenz noch ein Vorbild

Artikel drucken (Alexa Gaspari)

Jeder Mensch ist kostbar! Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Und doch gibt es Zeiten im Leben, wo dieses besonders bedroht ist, vor allem als kleinstes Menschenkind im Mutterleib. Aber auch als Schwerkranker oder an einer Psychose, Depression, Demenz oder Alzheimer-Erkrankung Leidender ist der Mensch heute gefährdet. Ihm kann heute nahegelegt werden, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Ist ein solches Leben dann für niemanden mehr kostbar, nicht einmal für den Betroffenen selbst?
Die Weisheit des Alters, die große Erfahrung, welche die ältere Generation an die nachfolgende weitergeben könnte, ist leider nur mehr selten gefragt. Und ist der Mensch von Demenz befallen, so wird er nach Möglichkeit abgeschoben und vergessen.
Auch meine Mutter hat in ihren letzten Lebensjahren (sie starb mit 100 Jahren) stark an Demenz gelitten, und doch ist mir gerade in dieser Zeit so richtig bewusst geworden, wie viel wir, ihre Kinder, ihre Enkel, in diesem Stadium ihrer Erkrankung noch von ihr lernen konnten: von der Geduld, mit der sie zunächst den Übergang in die Demenz ertragen hat, ohne viel darüber zu klagen, ja, dass sie immer wieder versucht hat, mit Humor ihre zunehmende Vergesslichkeit  oder Orientierungslosigkeit zu überspielen.
In der Anfangszeit konnte ich einfach nicht glauben, dass sie mir dreimal, viermal hintereinander dieselbe Frage stellte. „Mami, das hast du mich jetzt schon dreimal gefragt,“ habe ich dann entgeistert geantwortet. Ganz heiter hat sie dann geantwortet: „Na, dann sagst du’s mir halt ein viertes Mal.“ Ihr war schon früher als mir bewusst, dass dies kein Scherz, sondern bitterer Ernst war. Doch sie wollte nicht, dass viel Aufhebens davon gemacht wird.
Je mehr die Krankheit fortschritt, desto dankbarer wurde sie für jede Hilfe, war stets guter Laune, wenn sie jemand besuchen kam, hat sich nie darüber beklagt, wenn sie eine Zeitlang wenig Besuch zum Plaudern kam. Mehr denn je zuvor hat sie gemeinsame Ausflüge oder Geburtstagsfeiern genossen.
Zu den Betreuerinnen, die sie zu Hause in den letzten Jahren mitbetreut haben, war sie immer freundlich und erkundigte sich, wie es ihnen geht. Sie hat nie viel verlangt, ja, war unglaublich bescheiden und genügsam, wie sie es schon ihr ganzes Leben lang gewesen war.
Unzufrieden war sie eigentlich so gut wie nie, hat nie ihren Zustand bejammert. Konnte sie auch nicht mehr an Diskussionen teilnehmen, weil das zu kompliziert für sie geworden war, so hat sie z.B. beim Familienfest einige heitere Worte in verschiedenen Sprachen zum Besten gegeben und alle damit unterhalten.
Später, als sie kaum mehr gesprochen hat, gelang es ihr trotzdem ihre Dankbarkeit  und ihre Freude über Besuch oder Spazierfahrten mit strahlenden Augen und Umarmungen zum Ausdruck zu bringen. Ihre letzten, nachts geschriebenen Worte – zu einer Zeit, da wir alle dachten, dass sie nicht mehr schreiben konnte –  ca. 2,5 Jahre vor ihrem Tod – lauteten, wie folgt: „Ich fühle mich sehr wohl. Danke allen die es mir erbitten. Danke   Christl.“
Geduld, Humor, Dankbarkeit, Genügsamkeit, Freude, Zufriedenheit ... Ja, auch in dieser schweren Zeit war sie uns ein kostbares Vorbild. Wie froh war ich später, in der Zeit der Pandemie, dass ich 2017 noch die letzten 10 Tage ihres Lebens Tag und Nacht bei ihr im Spital sein konnte.


© 1999-2024 Vision2000 | Sitz: Hohe Wand-Straße 28/6, 2344 Maria Enzersdorf, Österreich | Mail: vision2000@aon.at | Tel: +43 (0) 1 586 94 11