Bénédicte Delelis |
Es war früh am Morgen in der Cafeteria des Spitals. Durch die großen Erkerfenster strömte Licht herein, um uns herum ein Hin- und Hergehen wie in einem Ameisenhaufen. Wir saßen vor dampfenden Kaffeetassen und plauderten: über den Schulanfang (es war sehr heiß gewesen, die Kleinen waren mit ihren Lehrern zufrieden), über das neue zentrale Vergabesystem der Studienplätze für die Älteren (das würde nicht einfach werden... ); und dann natürlich über die Gesundheit. Meine Freundin hatte ihren Sohn mit, der vor Wochen eine Lebertransplantation erhalten hatte. „Vorhin sprachen wir darüber, wem wir Liebe schulden“, erzählte sie. Sie sah ihren Sohn an: „Nicht wahr?“ Der Junge lächelte und schüttelte zugleich den Kopf: „Ich schulde da sehr viel! Den Ärzten, den Menschen, die so viel für mich gebetet haben, der Familie…“ „Und auch dem Spender, ja, dem Spender,“ fuhr die Mutter fort… „Aber es darf dich nicht erdrücken! Wir alle haben eine Liebes-Schuld, wir alle!“
Dieses Wort hat mich sehr beschäftigt. Die ganze folgende Woche habe ich darüber nachgedacht, über meine Liebesschuld: natürlich gegenüber meinen Eltern, wegen der Zeit, die sie damit verbracht haben, sich um mich zu kümmern, mich zu füttern, mir das Sprechen und Laufen beizubringen, die Schuhbänder zu binden, Knöpfe in Knopflöcher einzufädeln, das Kreuzzeichen zu machen... Die kleinste Geste meines Lebens erschien mir plötzlich als das, was sie war: die Frucht der Arbeit, der Aufmerksamkeit, der Liebe, der Hingabe oder der Opfer anderer.
Und dann die Großeltern: ihre unerschöpfliche Zärtlichkeit, ihre Weisheit, ihre Knie, auf die man um 6 Uhr morgens springen kann, weil sie nie schlafen, die Süßigkeiten in Laden, das Erdbeer-Eis am Meer und ihre Freude jedes Mal, wenn wir kommen, obwohl wir Marmeladenflecken auf das Sofa machen und das Porzellangeschirr umwerfen.
Und dann die Lehrer... Vor allem die Energie, die sie einsetzen, um uns beizubringen, wie man 8 schreibt. Ich erinnere mich genau: Einen 8-er zu malen, schien fast unerreichbar. Und die Brüder und Schwestern, die Cousins, die Freunde, die unsere Kindheit und dann die Jugendzeit so lebensfroh gemacht haben, die Ärzte, die uns behandelten, die Priester, die uns Christus geschenkt haben, die Ordensleute, die uns mit ihrem Beispiel, ihrer Freundlichkeit geprägt haben...
„So viele Gesichter sind nötig, um ein einziges Gesicht zu prägen“, schrieb Pater Luc de Bellescize. Und in der Kantine des Krankenhauses wurde mir das noch deutlicher bewusst: Wir sind ein Mosaik von so vielen Gesichtern. Dieser wieder genesene junge Mann war sich dessen deutlicher bewusst. Aber im Grunde genommen war ich einer Unzahl von Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise für mich eingesetzt hatten, genauso zu Dank verpflichtet wie er.
Die Woche verging. Und das Sonntagsevangelium ertönte, gebieterisch, furchterregend. Das Himmelreich ist vergleichbar mit einem König, der mit seinen Dienern abrechnen will ... Ein Mann wird zu ihm gebracht, der ihm 60 Millionen Silberstücke schuldet. Natürlich kann dieser nicht zurückzahlen. Und wie in allen Gleichnissen Jesu werden wir sanft dazu gebracht, auszurufen: „Dieser Mann bin ich!“ Ich verdanke alles Gott, alles denen, die mich geformt haben! Ich bin der Mann, der Schulden hat und nicht zurückzahlen kann!“ Der König lässt seinen Diener gehen und erlässt ihm seine Schuld.
Den Rest kennen wir. Unsere Liebesschuld ist immens. Wir können sie nicht rückerstatten. Was wir aber tun müssen: Mit unseren leeren Händen versuchen, so zu lieben, wie wir geliebt wurden.
Die Autorin ist Kolumnistin für Famille Chrétienne. Ihr Beitrag erschien in der Ausgabe v. 7-13.10.23