Äußerste existenzielle Notsituationen sind Herausforderungen, die den Einzelnen leicht überfordern. Wer eingebettet ist in eine vertraute Gemeinschaft, wie es die Familie ist, kann viel besser Hoffnung mobilisieren und vermag so zu bestehen. Christa Meves illustriert dies anhand eines bewegenden Beispiels.
Christas Meves |
"Sie sehen es doch selbst“, sagt der Arzt zu dem Ehepaar, das in Hochspannung vor ihm sitzt, „im Grunde bleibt uns keine Minute mehr, um mit der Operation zu warten. Allein per Dialyse schaffen Ihre Nieren ihre Arbeit nun nicht mehr. Wir brauchen – am besten noch heute – die Voruntersuchung mit den Spendern. Wie Sie sagten, hätten Sie bereits ausgemacht, dass sich da mehrere in Ihrer großen Familie finden würden, aber diese Personen sollten am besten spätestens morgen früh für die ersten Voruntersuchungen hier in der Klinik antreten; denn es ist unwahrscheinlich, dass wir sofort die beste Niere herausfinden, die zu der Ihren passt. Ich sagte Ihnen bereits: Fragen Sie solche Angehörige, die mit Ihnen blutsverwandt sind; denn bei diesen finden wir am ehesten das passende Organ.“
Noch geschockt sitzen Berthold, der Nierenpatient und seine Frau Clarissa nach dieser apodiktischen Zuweisung des Nephrologen in ihrem Auto. „Wir müssen sie jetzt gleich anrufen“, fängt sich als erstes die Ehefrau. Gemeint sind damit die drei Brüder von Berthold. Zwei wohnen im Umfeld, aber Andreas müsste sich von Stuttgart sofort einen Flieger nach Berlin nehmen“, meint Clarissa.
„Ja, sie müssen sich unverzüglich anmelden“, nickt Berthold und hört sogleich die beglückte Stimme seiner Frau, die per Telefon bereits mit dem Anrufen begonnen hatte: „Alles klar, wir danken Dir,“ und zu Berthold fährt sie fort: „Er hat vorsorglich schon einen Flieger gebucht. Er trifft noch heute bei uns ein.“
„Aber wollen wir Mutter denn nicht lieber auslassen?“, meint Berthold, der nun bereits den Wagen gestartet hat. „Das musst Du selbst entscheiden“, antwortet Clarissa. „Aber würdest Du sie damit nicht kränken?“
Bertholds Mutter hütet daheim die vier Kinder des Paares. Sie, die 60-jährige, die als Erzieherin immer noch in einer Kita arbeitet, hat sich bereits eine lange Zeit Urlaub genommen, in der sie bei der zu erwartenden Operation ihres ältesten Sohnes bei ihm sein möchte. Aber sie hat sich außerdem auch noch als Nierenspenderin zur Verfügung gestellt: „Falls meine Niere am besten passen würde“, hat sie gemeint. Dann würde sie Frau Schmidt, die Nachbarin, für die Betreuung im Haus fragen, solange Clarissa nicht daheim sein könne. „Diese gute Witwe kennt doch ohnehin schon Eure Kinder alle und ist mit Eurer Wohnung vertraut.“
So argumentierte mit ihrem vorausschauenden Realitätssinn Bertholds Mutter. Diese Mutter hatte bereits ein schweres Schicksal gehabt. Gerade als das Jüngste ihrer vier Kinder geboren war, hatte sich der 38-jährige Ehemann an seinem Arbeitsplatz einmal um sich selbst gedreht und war dann tot zusammengebrochen. Gemeinsam mit ihren Eltern hatte sie dann die vier Söhne großgezogen. Auch diese beide haben sich jetzt sofort als mögliche Nierenspender gemeldet. Aber wegen ihres Alters hat man die mögliche Spende nicht akzeptiert.
Das Ehepaar trifft daheim ein. Die Mutter tritt dem Paar entgegen. Sie schaut ihren Sohn und ihre Schwiegertochter an und bindet sich darauf ohne ein Wort die Schürze ab. „Es geht los, nicht wahr?“, sagt sie. „Ich habe mein Köfferchen schon parat“.
Schon der Beginn dieser Geschichte erzählt von einer erstaunlichen familiären Zusammenarbeit, wie sie angesichts einer solchen Notlage keineswegs selbst in gestandenen Familien allgemein und selbstverständlich ist. Aber diese Familie war eben – gerade durch die damalige Katastrophe des Ausfalls des jungen Familienvaters fest zusammengeschweißt worden.
Am nächsten Tag begannen in der Klinik die umfänglichen Voruntersuchungen der drei Brüder und die der Mutter des Nierenpatienten, um den am besten passenden Spender herauszufinden; denn darauf kommt alles an. Dabei wird es um Tod oder Leben gehen, ob die Art der Niere des Spenders vom Körper des Patienten angenommen wird, statt als ein fremdes Element und damit als unpassend abgestoßen zu werden. Das ist zwar Hoffnung, aber eine Zitterpartie für alle Mitbetroffenen.
Mit Riesenspannung erwarten schließlich alle miteinander das Untersuchungsergebnis durch den Chefarzt: „Es hat sich gezeigt, teilt er mit: Alle drei Nieren der Brüder sind leider nicht geeignet. Allein nur, hier aber fast vollständig, kommt die Niere Ihrer Mutter infrage.“ Stumm schauen alle die Mutter an. Sie steht aufgerichtet, so als lausche sie noch. Alle Blicke verharren. Dann sagt sie mit klarer fester, aber nicht leiser Stimme: „Ja!“ Berthold geht auf die Mutter zu und umarmt sie schweigend. Er weint. Nun weinen alle...
Der Arzt teilt den Operationstermin mit. Auf dem Heimweg sprechen alle über die Einzelheiten. Selbst eine Schwägerin will im Hause mithelfen, während Clarissa sich in der Klinik als Begleiterin ihres Mannes einen Platz gesichert hat.
Am Operationstag ist die gesamte weitere Familie ein¬schließlich der Großeltern des Patientenpaares in einem dafür parat gestellten Warteraum versammelt. Es herrscht eine gelegentlich durch ein gemeinsames Murmeln durchbrochene Stille. Sie sitzen im Rund – mehr oder weniger gebeugt und halten die Hände gefaltet. Sie beten. Sie beten gewissermaßen ohne Unterlass. Die Stunden ziehen sich hin. Gelegentlich geht einer hinaus, manchmal Getränkeflaschen die Runde. Einmal stimmt einer ein „Vater unser“ an, ein anderer den „schmerzhaften Rosenkranz“. Einige fallen dann mit ein.
Endlich der Eintritt des Chefs. „Ich darf Ihnen einen vorzüglichen Verlauf der Transplantation mitteilen“, sagt er. Die Spannung entweicht. Danach Hände schütteln, Umarmungen.
Die weiteren Hoffnungsgebete dieser so fest zusammenhaltenden Familie zeigen einen fortlaufenden Erfolg. Der Nierenpatient Berthold kann bereits nach wenigen Wochen wieder an seinem Arbeitsplatz stehen, und auch seine Mutter kann nach einigen Wochen der Genesung in ungeminderter Kraft, ja mit einer neu gewonnenen inneren Freude ihren Arbeitsplatz wieder ausfüllen. Und die junge Familienmutter Clarissa lässt bei ihren Nachtgebeten mit den Kindern nie den Spruch aus:
„Die Hoffnung lässt uns weitergeh’n, selbst wenn das Ziel nicht gleich zu seh’n“.
Einmal mehr lässt sich aus dieser Geschichte die Erkenntnis gewinnen, dass durch ihren Zusammenhalt eine Familie – und offenbar mit einem besonderen Segen die gläubige Familie – mit erstaunlich großer Wahrscheinlichkeit imstande ist, eine existenzielle Not erfolg¬reich zu bewältigen, weit eher als dies Einzelpersonen allein vermögen. So weist es der jüngst verstorbene Frank Schirrmacher (FAZ) in seinem Buch Minimum mit einem historischen Beispiel nach. Die (fest im Glauben begründete) Hoffnung ist in Not und Leid offenbar ein erkennbar starkes lebenserhaltendes Element.
Aus Vision2000 6/17