VISION 20001/2024
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Dem Durcheinanderwerfer in den Arm fallen

Artikel drucken Ein Appell , für Ordnung dort zu sorgen, wo Verwirrung herrscht (Von Anna Diouf)

„Durcheinanderwerfer“: So hieße der Teufel, würden wir das Wort „Diabolus“ wörtlich übersetzen. Und dieser „Durcheinanderwerfer“ der göttlichen Ordnung scheint gerade sehr aktiv zu sein: Keinen Lebensbereich gibt es, der nicht zunehmend von Chaos und Instabilität gekennzeichnet wäre.

Politik, Gesellschaft, Natur, Kirche: Überall herrscht Verwirrung. Die klaren Verteidigungslinien gegen große Ideologien, wie sie das 20. Jahrhundert geprägt haben: Kirche gegen Nationalsozialismus, Kirche gegen Kommunismus – sie existieren nicht mehr. Die Irrlehren sind allerdings nicht verschwunden. Sie sind vielmehr als Prämissen und Denkweisen in viele Bereiche eingesickert: In Wissenschaft und Kultur, in Journalismus und Wirtschaft.
Das ist eine Herausforderung, die uns geistige und geistliche Kraft abverlangt: Ja, wahrscheinlich trug der Mensch im Laufe der Geschichte noch nie so viel Eigenverantwortung dafür, nicht in Verwirrung zu geraten.
Denn weder schützt uns heute ein klares Lehramt, das bis in politische Fragen und in den Alltag hinein den Rahmen dessen vorgibt, was wir zu denken haben, noch schützt uns das Unwissen: Ein mittelalterlicher Bauer etwa konnte unter Umständen zeit seines Lebens ein guter Katholik sein, ohne überhaupt zu ahnen, dass gerade ein Schisma mit einem Papst in Rom und einem in Avignon herrschte. In Zeiten des Internets ist ein solches seliges Unwissen beinahe unvorstellbar. Wir müssen viel mehr Informationen beurteilen und unterscheiden als unsere Vorfahren.
Dennoch bietet uns dieser mittelalterliche Bauer einen guten Ansatzpunkt, um zumindest mit dem Problem der Informationsflut sinnvoll umzugehen: Die Basisdemokratie Internet ermöglicht uns zwar eine bisher ungekannte Teilhabe an der Meinungsbildung. Sie suggeriert uns aber auch, dass wir über alles Bescheid wissen müssten. Müssen wir das?
Unsere Gehirne sind schließlich nicht mit dem technologischen Fortschritt mitgewachsen! Lernen wir also, Mut zur Lücke zu zeigen: Nicht zu allem müssen wir eine Meinung haben, nicht über alles müssen wir informiert sein. Freilich ist eine solche Grundhaltung kein Freifahrtschein, um sich jeglicher Verantwortung zu entledigen. Durchaus müssen wir den Verwirrungen unserer Zeit mehr entgegensetzen als Unwissenheit oder Desinteresse. Wir können uns nicht wie die Amische Glaubensgemeinschaft aus der Welt zurückziehen. Aber wir dürfen sehr wohl weise wählen, wo sich der Kampf lohnt, und wo wir uns nur unnötig zerstreuen und verunsichern lassen.
Dort, wo wir uns dem Chaos der Welt stellen wollen, ist es sinnvoll, sich einige Mechanismen zu vergegenwärtigen. Wir leben in einer Zeit der Polarisierung. Das bedeutet, dass man uns beständig einredet, dass es nur zwei einander entgegengesetzte Haltungen gäbe, und dass sich jeder einer dieser Positionen zuordnen müsse. Da das Christentum der Welt ein Anstoß ist, werden seine Prämissen häufig vom
Mainstream eher abgelehnt. Das hat zur Folge, dass sich Christen oft als „Gegner“ des Main­streams wiederfinden, und sich diese Polarisierung zu eigen machen. Das ist gefährlich.
Betrachten wir etwa die Klimaschutzbewegung: Während ihr Versuch, Panik zu schüren und Weltuntergangsfantasien zur Basis von politischen Entscheidungen zu machen, schädlich ist, darf uns dies nicht dazu verleiten, jeglichen Umweltschutz zu verwerfen, und unsere Verantwortung für die Schöpfung zu leugnen. Schließlich ist die Sorge für die Schöpfung eine der ersten Aufgaben, die Gott uns aufgetragen hat.
Auch die Genderdebatte ist ein neuralgischer Punkt: Die Komplementarität der Geschlechter zu verteidigen, darf nicht in einen simplizistischen Dualismus münden, der Tugenden oder Eigenschaften in „männlich“ und „weiblich“ einteilt, Männern etwa die Ratio und Frauen die Emotion zuordnet; oder auch die bürgerliche Rollenverteilung der 50er Jahre als zeitloses Ideal des Zusammenwirkens von Mann und Frau verabsolutiert.
Diese Beispiele zeigen, warum einem Christen der „Feind des Feindes“ nicht unbedingt ein Freund ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Übertreibung mit einer anderen zu bekämpfen, sondern den zahllosen Übertreibungen, Verzerrungen und Halbwahrheiten unserer Zeit die ganze Wahrheit entgegenzuhalten. Und dies wiederum bedeutet eine Menge harte Arbeit und ehrliches Ringen. Der Christ ist darum im Idealfall im Sturm der widerstrebenden Meinungen die Stimme der Vernunft, die nicht ins eine oder andere Extrem verfällt.
Der zweite große Mechanismus, den wir begreifen lernen sollten, ist die Neigung zu „großen Erzählungen“. Mittlerweile ist vor allem in den Medien der Begriff „Narrativ“ verbreitet. Ein Narrativ ist genau das: Eine Erzählung, die das, was wir erleben, in einen sinnvollen Zusammenhang bringt. Das Problem ist, dass mit der wachsenden Bedeutung von Ideologien auch der Drang zunimmt, Fakten so auszuwählen oder zu verbiegen, dass sie sich in das gewünschte Narrativ einfügen.
So entstehen schnell radikale Versionen von Wirklichkeit, die überhaupt nicht mehr miteinander in Einklang zu bringen sind. Dazu zählen auch „Verschwörungstheorien“. Diese Narrative zeichnen sich dadurch aus, dass sie letztlich den freien Willen des Menschen leugnen, und davon ausgehen, dass alle nur mehr Marionetten sind. Das wirkt auf manche Menschen geradezu tröstlich: Erstens nehmen sie uns die Verantwortung für das, was wir tun, und schieben sie mächtigen Persönlichkeiten zu. Zweitens bieten sie eine einfache Antwort auf komplexe Vorgänge, die sich anders kaum in eine „sinnvoll“ erscheinende Erzählung einbinden lassen.
Christen aber wissen, dass es letztlich nur eine wahre große Erzählung gibt: Die von Jesus Christus, von der Selbstoffenbarung Gottes. In dieser Erzählung ist alles enthalten, was wir für die Beobachtung und Bewertung dessen, was uns umgibt, brauchen. Sie sagt uns, dass der Mensch frei ist, aber auch, dass er Sünder ist.
Die ganze Komplexität des Seins ist darin enthalten: Unsere Verstrickung, unsere Neigung zum Bösen, unsere Selbstsucht, Gier und Grausamkeit, aber auch die Sehnsucht nach dem Guten und unsere Fähigkeit dazu. Auch die Erlösungstat Gottes ist alles andere als ein simples Rezept: Menschwerdung, Verklärung, Kreuz, Auferstehung: Man sollte meinen, dass dies als Immunisierung gegen eine vereinfachte Wahrnehmung der Realität ausreichen sollte.
So ist das Evangelium nicht nur in spiritueller oder mystischer Hinsicht, sondern auch praktisch ein Schlüssel zur Realität, der uns hilft einzuordnen, was wir erleben: Ist ein Sachverhalt im Einklang mit der Komplexität des Seins, wie sie uns das Evangelium vorstellt? Ist eine Sache dem Leben zugewandt oder dient sie dem Tod? Sät eine Verlautbarung Heil oder Unheil?
So müssen wir die Mosaiksteinchen der fragmentierten Ordnung unserer Zeit einzeln betrachten: Um uns vor Verwirrung zu schützen, aber auch um anderen zu helfen, zur Wahrheit zu gelangen: Irrtum und Wahrheit befinden sich heute überall dicht nebeneinander. Mit dem Maßstab des Evangeliums können Christen die „Wahrheitskörnchen“ ausmachen, die überall verstreut liegen, und sie wieder zu einer Ordnung zusammenfügen.
Wir sind dazu berufen, dem „Durcheinanderwerfer“ in den Arm zu fallen, Ordnung herzustellen, wo Chaos sich breitmachen will:  Eine große Aufgabe, aber eine, zu der wir ausgerüstet und befähigt werden durch Gott, den Herrscher über das All.


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