VISION 20001/2024
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Sorgt euch nicht um morgen!

Artikel drucken Ein Appell, auf das konkrete Wirken Gottes im eigenen Leben zu setzen (Von Richard Kocher)

Weil der Mensch heute weitgehend gottfern lebt, meint er, alles in der Hand zu haben. Er handelt sich damit die Last ein, für alles verantwortlich sein zu müssen. Pläne, Prognosen  und Absprachen versuchen die Zukunft in den Griff zu bekommen. Gerade das Geschehen der letzten Jahre hat gezeigt, wie illusorisch dieses Konzept ist – etwas, was  Christen längst schon wissen sollten…

Der Mensch zwischen Gestern und Morgen

 
   

Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage“ (Mt 6,34). Mit diesem Satz aus der Bergpredigt geht es dem Herrn um eine recht verstandene Gelassenheit, die jeden neuen Tag als ein Geschenk aus Gottes Hand entgegennimmt. Hier ist die Frage angesprochen, ob der Mensch auf die Vorsehung Gottes vertraut oder ob er sich durch eigenes Planen und Sorgen absichern will.
Der spirituelle Gehalt dieses Herrenwortes ist deshalb beträchtlich. Für einen Suchtkranken ist es sogar lebensnotwendig, sich daran zu orientieren, wenn er von seiner Abhängigkeit befreit werden will. Was in einem kleinen Faltblatt der Anonymen Alkoholiker über das Verhältnis von gestern und morgen zum heutigen Tag gesagt wird, betrifft aber nicht nur Suchtkranke, sondern jeden von uns:
„Es gibt in jeder Woche zwei Tage, über die wir uns keine Sorgen machen sollten. Zwei Tage, die wir freihalten sollten von Angst und Bedrückung.
Einer dieser zwei Tage ist Ges­tern mit all seinen Fehlern und Sorgen, geistigen und körperlichen Schmerzen. Das Gestern ist nicht mehr unter unserer Kontrolle. Alles Geld dieser Welt kann das Gestern nicht zurückbringen; wir können keine einzige Tat, die wir getan haben, ungeschehen machen. Das Gestern ist vorbei!
Der andere Tag, über den wir uns keine Sorgen machen sollten, ist das Morgen mit seinen möglichen Gefahren, Lasten, großen Versprechungen und weniger guten Leistungen. Auch das Morgen haben wir nicht unter unserer sofortigen Kontrolle. ...
Da bleibt nur ein Tag übrig: heute!“
Jeder von uns hat schon die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so leicht ist, im Heute zu leben. Wir werden niedergedrückt von der Last vergangener Tage und ängstigen uns vor vielem, was auf uns zukommen wird. Die Angst vor dem Morgen und die Last des Gestern können wie zwei Mühlsteine sein, die uns aufreiben.
Deshalb heißt es treffend im obigen Faltblatt weiter: „Jeder Mensch kann nur die Schlacht von einem Tag schlagen. Dass wir zusammenbrechen, geschieht nur, wenn Du und ich die Last dieser zwei fürchterlichen Ewigkeiten – gestern und morgen – zusammenfügen. Es ist nicht die Erfahrung von heute, die die Menschen verrückt macht; es ist die Reue und Verbitterung für etwas, was gestern geschehen ist, oder die Furcht vor dem, was das Morgen wieder bringen wird.“
Es gibt eine falsche Angst vor dem Morgen mit all seinen Aufgaben und Problemen, aber auch ein Verhaftetsein in der Vergangenheit, das unfähig macht, im Heute zu leben. Betrachten wir beides näher.

Die Last der Vergangenheit

 
   

In den Zimmern alter Menschen sieht man fast immer die Bilder von den Kindern, der Hochzeit in jungen Jahren, dem verstorbenen Ehepartner. Für sie ist es oft bitter, im Alter erleben zu müssen, wie die Kräfte schwinden und man plötzlich auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Wer will es ihnen deshalb verdenken, dass sie sich - und sei es auch nur durch Bilder - an glücklichere Zeiten zurück­erinnern, der herben Gegenwart entfliehen. Die Orientierung auf das Leben, das hinter einem liegt, wirkt sich allerdings nicht selten lähmend aus: Alte Menschen wollen oft nicht mehr die Kraft aufbringen, die Chancen und Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen trotzdem noch bieten. Sie bleiben im Gestern hängen.
Das melancholische Lied der Beatles mit dem Titel „Yesterday“ ist schon so etwas wie ein Klassiker geworden. Die Erfahrung zerstörter Liebe, über die jemand nicht hinwegkommt, wird darin angesprochen. Eine ähnliche Gebrochenheit wie bei alten Menschen stellt sich ein: „Ich bin nicht einmal mehr halb der Mann, der ich einst war. Ein Schatten hängt über mir.“ Weiter heißt es im Text: „Warum sie ging, weiß ich nicht. Sie sagte es nicht. Ich sagte etwas Falsches, nun sehne ich mich nach Gestern.“
Ein junger Mensch hat hier eine in die Brüche gegangene Liebe noch nicht verarbeitet. Er sehnt sich nach dem, was war, auch wenn es unwiederholbar vorbei ist. Es gibt nicht wenige Menschen, die nie richtig über eine vergangene Liebesbeziehung hinwegkommen, zumal wenn sie wissen, dass sie am anderen schuldig geworden sind. Schuld und Versagen wirken dann wie eine drückende Last, die auf dem Heute ruht. Nicht selten mischt sich auch Verbitterung über erlittenes Unrecht ein.
Menschen sind im Heute gebrochen, weil sie gestern Schuld erfahren oder selbst Schuld auf sich geladen haben. Sie trauern vergangenen Tagen nach, sind unfähig, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.

Die Angst vor dem Morgen
Was uns in der Regel aber noch mehr zu schaffen macht als die Last des Gestern, ist die Angst vor und die Sorge für das Morgen.
Auf uns zukommende Aufgaben und Verpflichtungen beunruhigen uns. Wir suchen sie durch eine möglichst gute Planung in den Griff zu bekommen. Mit unserem Planungs- und Vorsorgedenken tun wir uns schwer, uns nicht um das Morgen zu kümmern. „Sollen wir denn wirklich die Hände in den Schoß legen und nichts tun?“, wird oft dem Wort des Herrn von der unnötigen Sorge um das Morgen entgegenhalten. „Das kann Gott doch nicht wollen.“
Ein Leben ohne Vorsorge ist nicht denkbar und auch nicht wünschenswert; offensichtlich geht es um das rechte Maß, das wir bei den Heiligen ersehen können. Sie sind für uns zugleich eine Herausforderung, die Grenzen unseres eigenen Vertrauens kritisch zu überprüfen. Am Beispiel des heiligen Maximilian Kolbe soll dies aufgezeigt werden.
Wenn von Maximilian Kolbe (1894-1941) gesprochen wird, dann meist aufgrund seiner Tat der Stellvertretung in Auschwitz, als er für einen Familienvater freiwillig in den Hungerbunker ging. Weniger bekannt ist, dass dieser Heilige ein Zeuge ersten Ranges für das Wirken der Vorsehung Gottes in unserer Zeit ist. Beim Presseapostolat Kolbes, dem ein überwältigender Erfolg beschieden war, zeigt sich dies gut.
Fast unzählbar oft erhielt er sowohl in Polen wie auch später in Japan für die Herausgabe seiner marianischen Zeitschriften - von dem von ihm herausgegebenen Ritter der Immakulata wurden monatlich 100.000 Exemplare gratis verteilt! – genau die zur Bezahlung anstehenden Beträge. Unbekannte Wohltäter deckten den gewaltigen Kapitalbedarf. Sein engster Mitarbeiter, der Priester Oh Ki Sun, stellte erstaunt fest: „Niemals kam auch nur ein einziger Yen zuviel, wie auch niemals auch (sic!) nur ein einziger Yen am Betrag fehlte.“
Es ist scheinbar nur eine Kleinigkeit, aber doch wieder ein „Wunder im Wunder“, wenn bei Maximilian Kolbe nur so viel an Spenden gegeben wurde, wie zur Deckung aktuell anstehender Verbindlichkeiten notwendig war. Offensichtlich sollte sich das Vertrauen auf Gottes Hilfe immer wieder neu bewähren. Auf keinem Ruhekapital sollte es sich ausruhen; je neu war es herausgefordert. Das erhaltene Geld mag somit für Grundsätzliches stehen.
Bonhoeffer hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, als seine Verhaftung unmittelbar bevorstand: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf Ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Zweifaches geht daraus hervor: Der auf Gott Vertrauende kann darauf bauen, dass ihm dieser in schwierigen Situationen des Lebens sein Geleit gibt. Bonhoeffer hat aus diesem Wissen Kraft und Zuversicht geschöpft. Auf der anderen Seite wird aber immer ein gewisses Moment der Offenheit, des Ausstehenden, sich menschlicher Verfügungsgewalt Entziehenden bleiben müssen: Gott schenkt uns heute noch nicht die Gnaden, die wir erst morgen brauchen.
Hier wird dann auch die Hilfe für die eingangs angesprochenen Suchtkranken ansetzen müssen. Wer sich als Abhängiger die Schrecken der Entziehungserscheinungen bei Alkohol- und Drogenmissbrauch immer wieder vor Augen hält, der muss zusammenbrechen. Die Angst davor, wieder so kämpfen zu müssen, nur um nicht wieder zur Flasche zu greifen, kann völlig entmutigen. Er wird glauben, dies nie zu schaffen.
In dem schon erwähnten Faltblatt der Anonymen Alkoholiker heißt es deshalb unter dem Titel „Nur für heute“: „Ich kann 24 Stunden lang etwas tun, vor dem ich mich erschrecken würde, sollte ich ein Leben lang es tun müssen.“ Nur die Konzentration auf die jetzt zu bestehende Aufgabe und das Vertrauen darauf, dass Gott alle Gnade schenkt, sie zu bestehen, können hier helfen.

Im Heute leben und auf Gottes Hilfe vertrauen
Der entscheidende Punkt des Vorsehungsglaubens wird hier deutlich: das Vertrauen. Nur darauf kommt es letztlich an. Gott schenkt dem Menschen alles nach dem Maß seiner Hingabe und seines Vertrauens. Kaum etwas anderes erscheint aber schwieriger als dies. Es erfordert ein Loslassen von sich selbst und ein Einschwingen auf die Absichten Gottes. Wo der Mensch dieses Vertrauen aufbringt, da ändert sich alles in seinem Leben, entsteht eine neue Umwelt. Er erlaubt Gott, durch ihn zu wirken, ihn als Werkzeug zu gebrauchen.
Wenn wir uns ins Gestern flüchten und übergroße Angst und Sorge vor dem Morgen haben, dann liegt der tiefste Grund dafür im Mangel an Gottvertrauen. Der Herr nennt die Jünger kleingläubig (vgl. Mt 6, 30). Wörtlich übersetzt: Wenig-Glaubende. Die Jünger und wir vertrauen zu wenig auf den Herrn.
Der Vater im Himmel weiß, was wir brauchen und was uns nottut. Wer sich dennoch unnötig darum sorgt, wird mit den Heiden verglichen (vgl. Mt 6,32). Ihnen geht es ausschließlich um die Daseinsvorsorge. Wenn es bei uns ähnlich ist, sollten wir uns aber nicht wundern über die „Heidenangst“, die uns so oft überkommt.
Die Kunst, im Heute zu leben will erlernt sein. Sie wird einem nicht einfach geschenkt. Man muss sich darum in jeder Situation des Lebens wieder neu darum mühen. In diesem Sinn gehört das Gebet um eine recht verstandene Gelassenheit, die sich weder durch die Last des Gestrigen niederdrücken noch durch die Angst vor der Zukunft ernsthaft beunruhigen lässt, zur christlichen Exis­tenz hinzu.

Der Autor ist Programmdirektor von Radio Horeb. Sein Beitrag ein Auszug aus dem unten angeführten Buch.  
Herausgeforderter Vorsehungsglaube – Die Lehre von der Vorsehung im Horizont der gegenwärtigen Theologie. Von Richard Kocher. media maria. 444 Seiten, 22€.

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