Bénédicte Delelis |
Wenn wir die Psalmen betrachten, stellen wir fest: Es gibt zwei Arten von Erfahrungen mit dem Gebet. Manchmal koexistieren sie im selben Psalm: einerseits schweigt Gott und andererseits antwortet Er. Im Psalm 22 erfährt der Beter auf dramatische Weise, wie weit weg Gott scheinbar ist, sodass er schreit: „Warum hast du mich verlassen?“ Und dann, mitten in seiner Not, ruft er aus: „Er hat auf mein Schreien gehört.“ Das Gleiche erfahren auch wir. Wer sich Gott nähert und versucht, auf Ihn zuzugehen, erfährt zwangsläufig die unendliche Distanz dessen, der uns überragt, des ganz Anderen, den niemand jemals erfassen kann, der alles weit übersteigt, was wir uns vorstellen können. Und ebenso entdeckt der Beter von Zeit zu Zeit oder auch gleichzeitig die überwältigende Nähe dieses ganz Anderen. (…)
Wir zünden beispielsweise Kerzen vor dem heiligen Antonius von Padua an und finden verlorene Autoschlüssel wieder. Eine Geste, die die Zärtlichkeit Gottes ausdrückt, der sich für alles, was den Menschen betrifft, interessiert, ob er nun schläft, wacht, aufsteht oder auf der Straße geht.
So hat mir unlängst ein Mönch erzählt, dass sie im Speisesaal des Klosters eine Episode aus dem Leben Benedikt XVI. gehört haben. Da wurde berichtet, dass er im Hubschrauber über Bayern geflogen sei. Darauf hat der Mönch eine ungewöhnliche Bitte an den verstorbenen Papst gerichtet. Er würde sich sehr darüber freuen, wenn Jesus ihm einmal auch einen Hubschrauberflug ermöglichen könnte.
Drei Tage darauf wird der Mönch, ein Imker, von einer Biene gestochen. Sein Körper schwillt an: eine Allergie! Die herbeigerufene Rettung stuft das als dringenden Notfall ein und bestellt einen Hubschrauber. Der Bruder jubelt. Unterwegs wird er behandelt, die Schwellung nimmt ab, er kann wieder atmen – und bewundert die Landschaft unter sich. Dem „heiligen“ Papst Benedikt und Jesus, der ihn so gesegnet hatte, schickt er ein fröhliches Augenzwinkern.
Schweigen und zärtliches Erhört-Werden sind die zwei Facetten des Gebets, durch die uns Gott auf stets neue Weise Sein Gesicht enthüllt. Ebenso erscheint der heilige Antonius wie ein Fingerzeig des Gottes, der in unserem Leben wirkt. Keine Frage, Gott ist kein Automat, der unsere Angelegenheiten regelt. Er ist Gott. Es dauert ein ganzes Leben, um etwas von Ihm zu erkennen. Dabei durchleben wir unweigerlich lange Perioden des Stillschweigens, merken nichts von Seinem Wirken – Phasen, in denen Er uns arm macht, reinigt, ausästet.
Beim Beten geht es eben nicht darum, die Schlüssel wiederzufinden oder all unsere Wünsche erfüllt zu sehen, sondern das Antlitz Gottes zu entdecken. Und da heißt es, Wüstenwanderungen zu bestehen, damit unsere Augen den einen oder anderen Gesichtszug erkennen.
Ja, Gott erhört immer (Joh 11,42). Aber das, was Er uns schenken will, ist Er selbst. So kommt es, dass wir lange Zeit im Gebet arm werden müssen. Wenn dann unsere Hände wirklich leer sind, wenn wir uns nicht mehr selber suchen, sondern wirklich Ihn – dann entdecken wir, erstaunt, dass Er uns alles gibt und dass es Ihm Freude macht, uns wie ein Vater zu umsorgen.
Famille Chrétienne v 16.9.23