Das Buch Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers erzählt von einem Pilger in Russland in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der das Bibelwort „Betet ohne Unterlass!“ zu verwirklichen sucht. Es trug wesentlich zur Verbreitung des Jesusgebets bei. Der Autor verwendet Teile dieser Erzählung und ergänzt sie durch Einwände, die Leser heute machen würden, und zeigt, dass unbedingtes Vertrauen auf Gottes Vorsehung letztlich entscheidend ist.
Ich, durch Gottes Gnade ein Christ, heimatlos auf Pilgerschaft von Ort zu Ort, durfte nach langem Suchen bei einem geistlichen Vater, meinem gottbegnadeten Starez, das immerwährende Herzensgebet erlernen und von da an treu üben. Dieser, mein Starez, hatte mich kaum darin unterwiesen, da nahm ihn Gott zu sich. So pilgere ich nun zu heiligen Stätten und gebe suchenden Menschen Auskunft über mein Leben und mein Gebet.
Da geschah mir einmal folgendes: An einem vierundzwanzigsten März kam mir das große Verlangen, morgen, am Tag, welcher der Reinsten Gottesmutter und ihrer göttlichen Verkündigung geweiht ist, am heiligen Abendmahl teilzunehmen. Bis zur nächsten Kirche waren es noch 30 Werst. So wanderte ich den Abend und die Nacht, um rechtzeitig zur Matutin zu kommen. Einmal musste ich über einen kleinen Fluss. Gerade in der Mitte gab das Eis unter meinen Füßen nach, und ich brach bis an die Hüften ein.
So durchnässt kam ich zur Matutin. Ich stand im ganzen Gottesdienst, ebenso im folgenden Hochamt, und durfte am heiligen Mahl teilnehmen. Um in meiner tiefen geistlichen Freude ungestört zu bleiben, erbat ich beim Kirchenwächter die Erlaubnis, bis zum nächsten Morgen in seiner Schutzhütte zu sein.
Diese Zeit verbrachte ich in unsagbarer Freude und Seligkeit. Ich lag in dieser kalten Hütte wie in Abrahams Schoß. Die Liebe des Herrn und seiner Mutter durchströmte mir in Wogen Seele und Herz und versenkte mich in ruhigen Trost. Gegen Abend fühlte ich ein starkes Reißen in meinen Beinen und erinnerte mich, dass sie durchnässt waren. Doch beachtete ich es nicht weiter
P. Leo Liedermann OSB |
Sag doch, Bruder, wendet hier ein Zuhörer ein, solltest du nicht bei aller Gebetstreue und Himmelsfreude auch auf den Leib achten, den Gott dir gegeben hat?
Nun, so fährt der Pilger fort, ich horchte mit ganzer Hingabe auf das Gebet in meinem Herzen und fühlte bald keinen Schmerz mehr. Unsere Pilgerschaft im Glauben lehrt uns, auf die himmlischen Dinge mehr zu achten als auf unser vergängliches irdisches Leben. Doch was nun geschah, scheint dir zuerst recht zu geben.
Denn am Morgen merkte ich, dass ich meine Beine nicht rühren konnte. Sie waren wie taub und hingen tot an meinem Leib. So lag ich unbeweglich da, zwei Tage lang. Am dritten Tag wollte der Kirchenwächter mich nicht länger in seiner Hütte lassen. Er sagte: „Wenn du hier stirbst, habe ich Scherereien.“
So schleppte ich mich mit seiner Hilfe mühsam hinaus und lag nun beim Kirchentor weitere zwei Tage. Auch hier mieden mich die Leute als einen, der ihnen nur Mühsal bringen konnte.
Das sind mir aber elende Christen, warf ein anderer ein, dich einfach liegen zu lassen, und sei es zum Sterben!
Freund, es sind Menschen wie wir, gab der Pilger zu, und wir mögen ihnen manchmal vielleicht sogar recht ähnlich sein. Doch auch durch solche vermag der Herr uns zu helfen, wie ich nun weiter berichten will. Denn endlich setzte sich ein Bauer zu mir und fragte mich: „Was gibst du mir, wenn ich dich heile? Mir ist einmal ganz das Gleiche geschehen, und so kenne ich ein Heilmittel.“ Danach einigten wir uns, dass ich als sein Entgelt seinen Sohn das Schreiben lehren solle.
Er begann nun so: In Abfallgruben und Hinterhöfen sammelte er alte verfaulende Knochen, wusch sie, zerstampfte sie zu kleinen Stücken und tat sie in einen Bottich, in dessen Deckel eine Ritze war. Den stülpte er kopfüber auf einen in die Erde gegrabenen Topf und überdeckte alles mit einer Schicht Lehm. Darüber legte er Holz und unterhielt den ganzen Tag lang ein kräftiges Feuer. Dann holte er den untersten Topf wieder hervor, in den durch die Ritze des Deckels eine Menge dicker Saft gesickert war, von starkem Geruch und rötlicher Farbe: „Da hast du nun deinen Knochenteer, reibe häufig deine Beine damit ein!“
Das tat ich mit Eifer. Schon am zweiten Tag fühlte ich meine Zehen wieder, konnte am dritten Tag die Knie beugen und ging nach einer Woche gestützt auf einen Stock. Zuletzt waren meine Beine gesund und stark wie zuvor.
Ihr seht also, dass meine Verlorenheit ins Herzensgebet mir statt Schaden nur das Erlebnis einer wahren Auferstehung gebracht hat und dazu noch die Freude, einem wissbegierigen Jungen zu einiger Bildung zu verhelfen.
Es erstaunt mich, meinte da ein anderer Zuhörer, wie du in deiner traurigen Hilflosigkeit einen so passenden Helfer gefunden hast; und wenn er dir auch nicht aus rein brüderlicher Güte beigestanden ist, so traf es sich doch gut, dass du den Preis für seine Heilkunst leicht erfüllen konntest!
Das siehst du ganz richtig: Gott der Herr lenkt meinen Weg durch Tiefen und Höhen. Hört noch, wie es weiter ging. Dieser Sohn meines Bauern tat nebenher Dienst im Haus des Amtmannes im Ort. Dabei kam auch mein Unterricht zur Sprache, und so besuchte mich der Amtmann bei meinem Bauern als einen seltsam Geheilten und Schreibkundigen. Da kamen wir auch auf mein Gebet des Herzens zu sprechen. Nach einigen Zweifeln ließ sich der Amtmann von dessen Glaubwürdigkeit überzeugen und lud mich hin und wieder zu sich ein, ihm aus meinem geistlichen Schatz vorzulesen, während er mit seiner Frau beim Tee saß.
Da geschah es einmal beim Essen, dass die Frau, eine gütige Alte, sich an einer Fischgräte verschluckte und in arge Not geriet. Man schickte nach einem entfernt wohnenden Arzt. Inzwischen wurde es Abend, und ich ging nach Hause. Da vernahm ich im Traum meinen gottseligen Starez: „Schau doch, dein Bauer hat dich geheilt, warum hilfst du nicht der Amtmannsfrau?“ Und auf mein Bitten gab er mir das Mittel an: „Sie hat starken Widerwillen gegen Baumöl, und schon beim Geruch wird ihr übel. Flöße ihr mit Hilfe ihres Mannes auch gegen ihr Sträuben einen Löffel voll ein. Sie wird erbrechen und die Gräte ausstoßen, und das Öl wird zur Heilung der Wunde im Halse nützen.“
So eilte ich noch in der Nacht zum Amtmann und bot ihm diese Hilfe an. Wiederum zweifelte er anfangs an der ungewohnten Kur, doch gab er überrascht die Abneigung seiner Frau gegen das geplante Mittel zu und ließ sich überzeugen. Wir taten nach des Starez Rat, die Gräte wurde erbrochen und die gute Frau schlief erleichtert ein. Am Morgen staunten beide, denn niemandem sonst war ihr Widerwille bekannt.
Wie kommst du bloß zu diesem Traum? Ist das ein Vorrecht für Pilger wie du ?
Nicht nur für Pilger, sondern für jeden, der mit reinem Sinn den Nächsten liebt. So sah es auch der eintreffende Arzt und bestätigte die glückliche Genesung. Diese wie auch meine eigene Heilung, schrieb er den Kräften der Natur zu. Doch auf diese Weise wurde ich gegen meinen Willen im ganzen Ort bekannt, und es kamen ständig mehr Menschen um Rat und Heilung zu meinem Bauern und zu mir. Das alles brachte mir große Unruhe, und da ich meine Pflicht an meinem Schüler erfüllt hatte, entwich ich heimlich bei Nacht.
Noch einmal fragte da einer der Zuhörer nach: Was ist nun dein Gewinn aus all diesen ungewöhnlichen Vorfällen? Von denen übrigens beide auch hätten übel ausgehen können, zumal für die Amtmannsfrau, hättest du nicht den Einfall mit dem Öl gehabt.
Lieber Bruder, entgegnete ihm da ein anderer aufmerksam, es war kein eigener Einfall, sondern der Zuspruch seines Lehrers, den er so hoch in Ehren hält. Darum war er auch übernatürlicher Hilfe für die bedrängte Frau zugänglich. Der Beistand seliger Verstorbener für uns bei Gott entspricht ja allgemeiner Überzeugung unter uns Christen.
Wir würden ihn noch weit öfter erleben, wollten wir dem Herrn nur besser gehorchen und nicht bloß auf unser eigenes beschränktes Wissen bauen.
Aus alldem lasst uns erkennen, dass es große Lebensweisheit bedeutet und vor allem Gott die Ehre gibt, wenn wir der übernatürlichen Wirklichkeit vertrauen und in ihr unsere Freude und Hilfe finden. Selbst wenn wir dabei zuweilen hinter den Kindern dieser Welt zurückstehen, wird der Schutz Gottes schließlich jede andere Lebensweise übertreffen, wie es die Erfahrung des Pilgers bestätigt hat.
Der Autor ist Mönch in der Abtei Seckau.
Die Rede des Pilgers ist hier frei wiedergegeben nach der Übersetzung Reinholds von Walter, Herder 1974.