VISION 20003/2024
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Kein Angst vor dem Widerspruch der Welt!

Artikel drucken Ein Appell an die Hirten der Kirche, keine Kompromisse mit dem Zeitgeist einzugehen (Von Kardinal Robert Sarah)

Am 9. April sprach Kardinal Sarah vor den versammelten Bischöfen Kameruns wesentliche Aspekte der derzeitige Krise der Kirche an. Insbesondere ging es um die Frage nach der Ver­antwortung der Bischöfe für die Verkündigung der offenbarten Wahrheit. Im Folgenden eine leicht gekürzte Fassung seiner Ansprache.

 
Kardinal Robert Sarah  

Die Hirten und Bischöfe wurden als Geschenk des Herrn an die Kirche eingesetzt, damit „wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in Seiner vollendeten Gestalt darstellen.“ (Eph 4,13) Das, liebe Mitbrüder im Episkopat, ist unser einziger Existenzgrund: die Einheit des Glaubens und die wahre Erkenntnis des Sohnes Gottes zu bewahren.
Diesem Ziel steht der Zustand der geistigen Unreife entgegen, zu dessen Bekämpfung uns der heilige Paulus auffordert, dieser Zustand der „unmündige Kinder, ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen, dem Betrug der Menschen ausgeliefert, der Verschlagenheit, die in die Irre führt.“ (Eph 4,14)
Wie sehr scheinen diese Worte die aktuelle Situation zu beschreiben! Die geistliche Unreife, die der heilige Paulus beschreibt, scheint sich heute über­all in der Kirche ausgebreitet zu haben! Ganze Teile der westlichen Kirchen scheinen in diesen Zustand der Kindheit im Glauben zurückgefallen zu sein! Was für ein Geheimnis! Aber gerade der heilige Paulus vertraut den Hirten die Aufgabe an, diese geistliche Unreife zu bekämpfen, die wir als Relativismus bezüglich der Lehre bezeichnen könnten.
Am Vorabend seiner Wahl zum Oberhaupt der Kirche kommentierte Benedikt XVI. diesen Vers, wie folgt: „Wir sollen nicht Kinder im Zustand der Unmündigkeit bleiben. Was heißt, unmündige Kinder im Glauben sein? Der hl. Paulus antwortet: Es bedeutet, "ein Spiel der Wellen zu sein, hin- und hergetrieben von jedem Widerstreit der Meinungen…" (Eph 4, 14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!  Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ,vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen’, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt.
Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus. Erwachsen ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Diese Freundschaft macht uns offen gegenüber allem, was gut ist und uns das Kriterium an die Hand gibt, um zwischen wahr und falsch, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen. Und dieser Glaube – dieser Glaube allein – schafft die Einheit und verwirklicht sich in der Liebe..“ (Missa pro eligendo Romano Pontifice, am 18.4.05)

Wahrheit – erstes Werk der Nächstenliebe
Daher ist es vorrangig, liebe Mitbrüder im Bischofsamt, dass wir ein lebendiges Bewusstsein dafür haben, dass die Wahrheit das erste Werk der Nächstenliebe ist, die wir der Kirche und den Gläubigen schulden. Angesichts einer Irrlehre kann Barmherzigkeit kein mitschuldiges Schweigen rechtfertigen. Sie darf nicht zur Mehrdeutigkeit eines bequemen Diskurses, der allen gefallen soll, inspirieren. Wir können unsere Feigheit nicht unter dem falschen Vorwand der Güte verbergen. Schweigen, wenn die Wahrheit des Glaubens auf dem Spiel steht, ist gleichbedeutend mit einem Mangel an Liebe.  
Ebenso gibt es keine wirkliche Einheit in der Kirche, wenn sie nicht auf der Wahrheit des Glaubens beruht. Nur der Glaube verbindet uns. Nur die Wahrheit, die Christus ist, nur der Glaube und die wahre Erkenntnis des Sohnes Gottes machen uns zu einem Leib! „Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten und in allem wachsen, bis wir Ihn erreicht haben. Er, Christus, ist das Haupt. Durch ihn wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt in jedem einzelnen Gelenk. Jedes trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst der Leib und wird in Liebe aufgebaut.“, sagte uns der heilige Paulus (Eph 4,15f).

Relativismus erzeugt Spaltung
Der Relativismus erzeugt eine tiefe Spaltung. Er isoliert den Christen und entzweit Gemeinschaften. Außerdem untergräbt er zutiefst die übernatürliche Einheit der Kirche, und der Relativismus verwandelt sich in eine Ideologie, in eine Diktatur und beschuldigt jene, die an die Wahrheit erinnern, Spaltung zu erzeugen. Das ist eine Lüge! Einheit durch Relativismus ist eine trügerische und weltliche Erscheinung. Es ist nur die zufällige und oberflächliche Begegnung augenblicklicher Interessen. Indem wir die Wahrheit des Glaubens in Erinnerung rufen, dienen wir der Einheit der Kirche! Lassen wir uns von den starken Worten des Heiligen Paulus herausfordern! Achtet darauf, durch das Band des Friedens die Einheit im Geiste zu bewahren. Dieses Band des Friedens ist das Band des wahren Glaubens, der allein Nächstenliebe hervorbringt, während der Relativismus Meinung gegen Meinung, Individuum gegen Individuum ausspielt. Der Relativismus zerbricht die Kirche und zerstört ihre Einheit.
Das möchte ich vor Euch, liebe Brüder im Bischofsamt Kameruns, betonen. Mit Eurer mutigen und prophetischen Erklärung vom 21. Dezember zum Thema Homosexualität und zur Segnung „homosexueller Paare“ habt Ihr durch die Erinnerung an die katholische Lehre zu dieser Frage der Einheit der Kirche einen großen und tiefgreifenden Dienst erwiesen! Ihr habt ein Werk der pastoralen Nächstenliebe geleistet, indem Ihr an die Wahrheit erinnert habt.

Verkündet das Wort!
Ich muss Euch sagen: Lasst Euch nicht von denen beeindrucken, die Euch vorwerfen, dass Ihr die Einheit oder die Nächstenliebe infrage stellt. Im Gegenteil, wenn Ihr geschwiegen hättet, hättet Ihr die Nächstenliebe und die Einheit zutiefst verletzt. Hören wir noch einmal die Anweisungen des heiligen Paulus: „Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst!“ (2. Tim. 4, 1-5). Der heilige Paulus ruft uns nicht zum Schweigen auf, um nur ja kein Aufsehen zu erregen und Missbilligung oder Kritik zu vermeiden. Er ordnet nicht an, dass wir aus politischer Klugheit Unklarheit entstehen lassen.
Liebe Mitbrüder im Bischofsamt von Kamerun, mit Eurer Erklärung, in der Ihr an die Lehre erinnert, habt Ihr „Eure Arbeit als Verkünder des Evangeliums getan“, um die Worte des heiligen Paulus zu verwenden. Ich möchte eine Passage aus Eurer Erklärung vom 21. Dezember 2023 zum Thema Homosexualität und den Segen „homosexueller Paare“ hervorheben. Ihr schreibt: „Angesichts semantischer Miss­bräuche, die darauf abzielen, den Wert der Realität und die wahre Bedeutung der Begriffe Familie, Paar, Ehepartner, Sexualität und Ehe zu verzerren (...). Im Namen der Wahrheit des Evangeliums und für die Menschenwürde und die Erlösung der gesamten Menschheit in Jesus Christus.“ Diese Präzisierung ist sehr wichtig. Ihr spracht „im Namen der Wahrheit des Evangeliums und für die Würde des Menschen und die Erlösung der gesamten Menschheit in Jesus Christus“.

Die Wahrheit: unabhängig von Kulturen

 
Deutschlands Kirche ist dabei,
mit dem Zeitgeist
Kompromisse zu schließen
 

Im Westen wollten einige, dass die Menschen glauben, Ihr hättet im Namen der Besonderheit der afrikanischen Kultur gehandelt. Das ist falsch und lächerlich, Euch solche Aussagen zuzuschreiben! Einige behaupteten in einer Logik des intellektuellen Neokolonialismus, dass die Afrikaner „noch“ nicht bereit seien, homosexuelle Paare aus kulturellen Gründen zu segnen. Als ob der Westen den rückständigen Afrikanern voraus wäre. Nein! Ihr habt im Namen der gesamten Kirche gesprochen: „Im Namen der Wahrheit des Evangeliums und für die Würde des Menschen und die Erlösung der gesamten Menschheit in Jesus Christus.“ Ihr tatet es im Namen des einen Herrn, des einen Glaubens der Kirche. Seit wann leiten sich die Wahrheit des Glaubens und die Lehre des Evangeliums von bestimmten Kulturen her? Diese Vorstellung eines an die Kulturen angepassten Glaubens offenbart das Ausmaß, in dem der Relativismus die Einheit der Kirche spaltet und korrumpiert.
Liebe Mitbrüder im Bischofs­amt, dies ist ein Punkt bei dem große Wachsamkeit im Hinblick auf die nächste Sitzungsperiode der Synode geboten ist. Wir wissen, dass manche Menschen, auch wenn sie das Gegenteil behaupten, eine Reformagenda verteidigen werden. Dazu gehört die destruktive Vorstellung, dass die Wahrheit des Glaubens je nach Ort, Kultur und Volk unterschiedlich aufgenommen werden sollte.
Diese Idee ist nur eine Verschleierung der Diktatur des Relativismus, die Benedikt XVI. so scharf angeprangert hat. Ziel ist es, unter dem Vorwand der kulturellen Anpassung an bestimmten Orten Verstöße gegen Doktrin und Moral zuzulassen. Man möchte den weiblichen Diakonat in Deutschland, verheiratete Priester in Belgien und ein Durcheinander von ordiniertem und Taufpriestertum im Amazonasgebiet zulassen. Einige neu ernannte theologische Experten verbergen ihre Projekte nicht. Dann wird man Euch mit falscher Freundlichkeit sagen: „Seien Sie versichert, in Afrika werden wir Ihnen diese Art von Innovation nicht aufzwingen. Sie sind kulturell noch nicht bereit.“
Aber wir, die Nachfolger der Apostel, sind nicht dazu berufen, unsere Kulturen zu fördern und zu verteidigen, sondern die universale Einheit des Glaubens! Wir handeln, gemäß Eurer Worte, Bischöfe von Kamerun, „im Namen der Wahrheit des Evangeliums und für die Menschenwürde und die Erlösung der gesamten Menschheit in Jesus Christus“. Diese Wahrheit ist überall dieselbe, in Europa ebenso wie in Afrika und den Vereinigten Staaten! Denn die Würde des Menschen ist überall gleich.
(…)

Angst, im Widerspruch zur Welt zu stehen
Ich glaube, dass es eine große Aufgabe der kommenden Jahre und sicherlich eines künftigen Pontifikats sein wird, diese Frage endgültig zu klären. Die Wahrheit ist, dass wir die Antwort bereits kennen. Aber das Lehramt muss es mit definitiver Feierlichkeit lehren. Hinter dieser Frage steckt eine Art psychologische Angst, die sich auch im Westen ausgebreitet hat: die Angst, im Widerspruch zur Welt zu stehen. Wie Benedikt XVI. sagte: „[...] Auch in unserer Zeit bleibt die Kirche ein Zeichen, dem widersprochen wird (Lk 2,34) – diesen Titel hatte Papst Johannes Paul II. nicht ohne Grund noch als Kardinal den Exerzitien gegeben, die er 1976 für Papst Paul VI. und die Römische Kurie hielt. Es konnte nicht die Absicht des Konzils sein, diesen Widerspruch des Evangeliums gegen die Gefahren und Irrtümer des Menschen aufzuheben. Zweifellos wollte es dagegen Gegensätze beseitigen, die auf Irrtümern beruhten oder überflüssig waren, um unserer Welt den Anspruch des Evangeliums in seiner ganzen Größe und Klarheit zu zeigen. “ (Benedikt XVI., 22. Dezember 2005).
Aber viele westliche Prälaten sind wie gelähmt bei der Vorstellung, sich der Welt zu widersetzen. Sie träumen davon, von der Welt geliebt zu werden. Die Sorge darum, ein Zeichen des Widerspruchs zu sein, ist ihnen abhanden gekommen. Vielleicht führt zu viel materieller Reichtum dazu, Kompromisse in weltlichen Angelegenheiten einzugehen. Armut ist für Gott eine Garantie der Freiheit.

Ein diffuser Atheismus auch in der Kirche
Ich glaube, dass die Kirche unserer Zeit der Versuchung des Atheismus ausgesetzt ist. Kein intellektueller Atheismus. Wohl aber ein subtiler und gefährlicher Geisteszustand: ein diffuser und praktischer Atheismus. Dieser ist eine gefährliche Krankheit, auch wenn die ersten Symptome mild erscheinen.
Ein zeitgenössischer Zisterziensermönch beschreibt es so:
„Der diffuse Atheismus, der sich nie als solcher bekennt, vermischt sich ohne Tamtam mit anderen Philosophien, mit unseren persönlichen Problemen, mit unserer Religion. Es kann unser christliches Urteil durchdringen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. In jeden von uns kann ein diffuser Atheismus eindringen, bis in jeden Winkel, der nicht von theologischem Glauben und Gnade besetzt ist [...]. Wir glauben, dass wir unversehrt bleiben, und dennoch applaudieren wir unsinnigerweise allen möglichen Hypothesen, Postulaten, Slogans und Erkenntnissen, die unsere Überzeugungen untergraben. Wir verkaufen Ideen, ohne die Originaletiketten zu unterscheiden. Das Schlimmste ist, dass materialistische Ideen in unseren Köpfen bleiben können, ohne dass sie heftig mit christlichen Ideen, die ebenfalls vorhanden sein sollten, kollidieren. Was darauf hindeutet, dass unsere christlichen Überzeugungen kein sehr festes Fundament haben. Dies ist der Beginn der Niederlage: Der diffuse Materialismus lebt in unserem Kopf Seite an Seite mit unserem wahrscheinlich ebenfalls diffusen Christentum“ (3).
Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Dieser diffuse, fluide Atheismus fließt durch die Adern der zeitgenössischen Kultur. Er nennt nie seinen Namen, sondern dringt überall ein, sogar in kirchliche Reden. Zuerst bewirkt er eine Art Lethargie des Glaubens. Das betäubt unsere Fähigkeit zu reagieren, Fehler und Gefahren zu erkennen. Das hat sich in der gesamten Kirche verbreitet. Papst Franziskus hatte in seiner Predigt vom 29. November 2018 eindrucksvolle Worte zu diesem Thema parat. Er sprach von dieser Zerstörung, die von innen heraus beginnt: „Die Verweltlichung des christlichen Lebens: Leben wir wie Christen? Es scheint so. Aber in Wahrheit ist unser Leben heidnisch, wenn wir uns auf diese Täuschung Babylons einlassen. Jerusalem lebt wie Babylon. Wir wollen eine Synthese schaffen, die nicht möglich ist. Und beide (Babylon und Jerusalem) werden verurteilt. Du bist ein Christ? Du bist eine Christin? Lebe wie ein Christ. Sie können Wasser und Öl nicht mischen. Sie sind immer unterschiedlich. Und das lehrt uns, die Prüfungen der Welt nicht in einem Pakt mit der Weltlichkeit oder dem Heidentum zu leben, der uns ins Verderben führt, sondern in der Hoffnung, uns von dieser weltlichen und heidnischen Verführung zu lösen und auf den Horizont zu blicken und auf Christus, den Herrn, zu hoffen. Hoffnung ist unsere Stärke: Lasst uns voranschreiten.“
Was müssen wir also machen? Man wird Euch  vielleicht sagen, dass die Welt nun einmal so ist, wie ist. Wir können dem nicht entkommen. Man sagt Euch vielleicht, die Kirche müsse sich anpassen oder sterben. Möglicherweise wird Euch gesagt, dass sie bei den Details flexibel sein müsse, solange der Kern erhalten bleibt. Man sagt Euch vielleicht, dass die Wahrheit theoretisch sei, aber dass Einzelfälle ihr entgehen. Alles Behauptungen, die die schwere Krankheit bestätigen, die an uns allen nagt!


SCHULDHAFTE ANPASSUNGEN
Ich möchte Euch lieber einladen, anders zu denken. Man kann nicht mit der Lüge zusammenarbeiten! Das Wesen des fluiden Atheismus ist das Versprechen einer Übereinstimmung zwischen Wahrheit und Lüge. Das ist die größte Versuchung unserer Zeit! Wir alle machen uns der Komplizenschaft mit dieser großen Lüge schuldig, die der fluide Atheismus ist! Wir geben vor, gläubige Christen und Menschen des Glaubens zu sein, wir feiern religiöse Riten, aber in Wirklichkeit leben wir als Heiden und Ungläubige. Machen wir uns nichts vor, wir kämpfen nicht mit diesem Feind. Zu guter Letzt erwischt er dich. Der fluide Atheismus ist schwer fassbar und schleimig. Wenn man ihn angreift, wird er einen in seine subtilen Kompromisse verwickeln. Es ist wie ein Spinnennetz. Je mehr man dagegen ankämpft, desto enger schließt es sich um einen. Der fluide Atheismus ist die ultimative Falle des Versuchers, des Satans.
Es zieht einen in sein eigenes Territorium. Wenn man ihm folgt, wird man dazu gebracht, seine Waffen einzusetzen: Lügen, Verstellung und Kompromisse. Er schürt Verwirrung, Spaltung, Groll, Bitterkeit und Parteilichkeit um sich herum. Schauen Sie sich den Zustand der Kirche an! Überall gibt es nur Uneinigkeit und Misstrauen. Der fluide Atheismus lebt und ernährt sich von all unseren kleinen Schwächen, unseren Kapitulationen und Kompromissen mit seiner Lüge. „Von uns vernachlässigt, aber einfach und so zugänglich, ist hier der Schlüssel zu unserer Befreiung zu finden: die Weigerung, persönlich an der Lüge teilzunehmen! Was macht es schon, wenn sich die Lüge überall breitmacht, wenn sie Herr über alles wird, dann lasst uns zumindest in diesem Punkt unbeugsam sein: dass sie es nicht durch mich wird“ (Alexander Solschenitzyn, Nicht mit der Lüge leben, 1974).
Von ganzem Herzen als Hirte möchte ich Euch heute einladen, diesen Beschluss zu fassen. Wir müssen in der Kirche keine Parteien gründen. Wir müssen uns nicht als Retter dieser oder jener Institution verstehen. All dies würde zum Spiel des Gegners beitragen. Aber heute kann jeder von uns die Entscheidung treffen: Die Lüge des Atheismus wird mich nicht mehr erfassen. Ich möchte nicht länger auf das Licht des Glaubens verzichten, ich möchte nicht länger aus Bequemlichkeit, Faulheit oder Konformismus dazu beitragen, dass Licht und Dunkelheit in mir koexistieren. Es ist eine sehr einfache Entscheidung, eine innerliche wie auch konkrete. Sie wird unser Leben verändern. Es geht nicht darum, in den Krieg zu ziehen. Nicht darum, Feinde anzuprangern. Wenn Ihr die Welt nicht ändern könnt, könnt Ihr Euch selbst ändern. Wenn sich jeder demütig dafür entscheiden würde, dann würde das System der Lügen von selbst zusammenbrechen, denn seine einzige Stärke ist der Platz, den wir ihm in uns schaffen.
Der fluide Atheismus wird nur durch meine Kompromisse mit seiner Lüge stark. Macht uns das Angst? Erinnern wir uns daran, dass die Gewissheit, die der Gläubige besitzt, nicht von dem kommt, was er weiß und sieht, sondern von Gott, dem Er vertraut.
„Ich vertraue Gott wegen der Klarheit, die Er besitzt, nicht wegen der Klarheit, die ich besitze. Ich kann in Bezug auf die Dinge der Erlösung blind sein, für meinen Glauben ist das unwichtig, er beruht auf dem absoluten Wissen Gottes (…) Deshalb erlebt der Gläubige Sicherheit, Frieden im Herzen und intellektuellen Mut. Er ist sicher, die Wahrheit zu besitzen, weil er weiß, dass er sich mit jemandem verbunden hat, der die Wahrheit selbst ist. “ (P, Jerôme)
Liebe Mitbrüder im Bischofsamt, indem Gott uns den Glauben anbietet, öffnet Er Seine Hand, damit wir unsere Hand dorthin legen und uns von Ihm leiten lassen. Wovor hätten wir Angst? Die Hauptsache ist, unsere Hand fest in Seiner zu halten! Unser Glaube ist diese tiefe Verbindung mit Gott selbst. Ich weiß, wem ich Glauben geschenkt habe,
sagt der heilige Paulus (2. Tim 1,12). Auf Ihn haben wir unser Vertrauen gesetzt. Angesichts des fluiden Atheismus kommt dem Glauben eine wesentliche Bedeutung zu. Er ist sowohl der Schatz, den wir verteidigen wollen, wie die Kraft, die es uns ermöglicht, uns selbst zu verteidigen. Den Geist des Glaubens zu bewahren bedeutet, auf jeden Kompromiss zu verzichten und sich zu weigern, die Dinge anders als durch den Glauben zu sehen. Es bedeutet, unsere Hand in der Hand Gottes zu halten.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dies die einzig mögliche Quelle des Friedens und der Sanftmut ist. Unsere Hand in der Hand Gottes zu halten, ist die Garantie für wahres Wohlwollen ohne Komplizenschaft, für wahre Sanftmut ohne Feigheit, für wahre Stärke ohne Gewalt. Ich möchte auch betonen, dass der Glaube eine Quelle der Freude ist. Wie können wir nicht fröhlich sein, wenn wir Ihm übergeben werden, der die Quelle der Freude ist? Eine Haltung des Glaubens ist anspruchsvoll, aber nicht starr und angespannt. Lasst uns glücklich sein, wenn wir mit ihm Händchen halten.
Der Glaube schafft gemeinsam Kraft und Freude. „Der Herr ist mein Licht und mein Heil: Vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist die Kraft meines Lebens: Vor wem sollte mir bangen?» (Ps 2 7, 1). Die Kirche liegt im Sterben, befallen von Verbitterung und Parteiungen. Nur der Geist des Glaubens kann echte brüderliche Güte begründen. Die Welt stirbt, zerfressen von Lügen und Rivalität, nur der Geist des Glaubens kann ihr Frieden bringen.
Kardinal Robert Sarah
Rede vor der Bischofskonferenz von Kamerun am 9.4.24



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