Wir wußten es eigentlich längst schon: Die ersten Lebensjahre sind entscheidend für den weiteren Weg des Menschen. Gefragt ist möglichst viel Zuwendung. Das bestätigt nun auch die Hirnforschung: Mehr Ansprache erzeugt leistungsfähigere Gehirne.
Bei der Geburt verfügt ein Säuglingsgehirn über 100 Milliarden Neuronen, das heißt: Es besitzt ungefähr so viele Nervenzellen, wie unsere Milchstraße Sterne hat. Worüber der Säugling aber noch nicht in ausreichendem Maße verfügt, ist die "Verkabelung", die sein Gehirn braucht, um Funktionen wie Sinneswahrnehmung, Sprechen und Denkvorgänge leisten zu können.
Während der ersten Lebensjahre unterliegt darum das Gehirn einer ganzen Reihe von außerordentlichen Veränderungen. Kurz nach der Geburt beginnt es, in einem rhythmischen Feuerwerk elektrischer Aktivität seine eigene physikalische Struktur zu verfeinern. Es wird dadurch fähig, die Tausenden von Muskeln, mit denen sein Körper geboren worden ist, die verschiedenen Organsysteme, die 100 Milliarden Gehirnzellen und die Billionen von Verknüpfungen zwischen diesen Zellen (Synapsen) zu koordinieren; denn nur wenn alle diese Teile zusammenarbeiten, können Bewußtsein, Vernunft, Gedächtnis und Sprache erzeugt werden - und dazu eine schier unendliche Anzahl von Anpassungsmechanismen an die verschiedenen Umgebungen, in denen das Kind sich jeweils vorfindet: vom Nordpol bis zur südafrikanischen Steppe.
Ein acht Monate alter Säugling steht in gewissem Sinn auf dem Höhepunkt seiner Gehirnaktivität. Er verfügt über rund eine Trillion (1.000 Billionen) Synapsen. Im Lauf der kommenden Jahre nimmt diese Zahl schrittweise wieder ab. Bis das Kind 10 Jahre alt ist, wird die Hälfte davon wieder abgestorben sein. Es bleiben rund 500 Billionen übrig, die dann den größten Teil des restlichen Lebens vorhalten. Zurück bleibt ein Gehirn, dessen Muster von Emotionen und Gedanken - im Guten wie im Schlechten - einzigartig sind.
Es ist der Wissenschaft inzwischen gelungen zu beweisen, daß unser Gehirn auf die Gegebenheiten der jeweiligen Umwelt reagiert, indem es sich selbst physikalischen oder chemischen Veränderungen unterzieht. Diese enorme Anpassungsfähigkeit nennt man Plastizität. Je nach geistiger Anregung kommen oder gehen unsere Synapsen, sie bauen sich auf, regenerieren sich oder verwelken wieder. Was das Gehirn zu vollbringen imstande ist, hängt eindeutig davon ab, inwieweit es benutzt wird oder nicht.
Bei Entzug einer stimulierenden Umgebung leidet das Gehirn eines Kindes. Kinder, mit denen man wenig spricht oder spielt und die selten berührt und gestreichelt werden, entwickeln bis zu 20 oder 30 Prozent kleinere Gehirne als es ihrem Alter entspräche. Kinder hingegen, die in einer sehr liebevollen, kommunikativen und anregenden Familie aufwachsen dürfen, haben bis zu 25 Prozent mehr Synapsen als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen.
Diese neuen Einsichten in die Gehirnentwicklung verstärken die Bedenken gegen die Betreuung sehr kleiner Kinder (von 0 bis 3 Jahren) in Kollektiven wie Krippen und Heimen. Denn es gibt eine Art festen Zeitplan für die Gehirnentwicklung, und das erste Lebensjahr ist dabei das allerwichtigste. In diesem Zeitraum werden die Grundlagen für Denken, Sprache, Gesichtssinn, Verhaltensmuster, Begabungen und andere Merkmale gelegt.
In dieser Zeit lernt das Kind, seine elementaren Bedürfnisse nach Sättigung, Bindung, Zärtlichkeit, Selbstbehauptung und Besitz zu befriedigen - oder es wird in einer seelisch krankmachenden Weise daran gehindert. Im Alter von zwei Jahren konsumiert das Kindergehirn zweimal soviel Energie im Stoffwechsel wie das Gehirn eines normalen Erwachsenen. Im Alter von drei trägt ein mißhandeltes und vernachlässigtes Kind bereits Spuren in seiner Emotionalität, die nur noch äußerst schwer zu beseitigen, wenn nicht sogar für sein ganzes Leben von Dauer sind.
Mit anderen Worten: Alle frühkindlichen Erfahrungen, gleich welcher Art, ob positiv oder negativ, prägen sich in unser Gehirn ein wie ein heißer Stempel in noch weiches Wachs. Dabei gibt es in den verschiedenen Lebensabschnitten eine Anzahl von "Fenstern" oder sensiblen Perioden, während derer das Gehirn ganz bestimmte Arten von Anregung braucht, um bestimmte Strukturen zu schaffen und zu stabilisieren. Während dieser Zeitabschnitte ist das Kindergehirn extrem elastisch. Doch danach, so weiß die Hirnforschung, schließen sich die Fenster wieder, und ein wesentlicher Teil des Gehirnaufbaus ist zur Vollendung gelangt.
Was ein Kindergehirn "verdrahtet", sind wiederholte Erfahrungen. Jedesmal, wenn ein Baby versucht, ein verführerisches Objekt zu berühren, intensiv in ein Gesicht zu schauen oder ein Wiegenlied zu hören, schießen winzige elektrische Impulse durch das Gehirn und legen Schaltkreise an, die so genau festgelegt sind wie jene in den Siliconchips unserer Computer.
Das Ergebnis sind jene Verhaltensmeilensteine, die Eltern immer wieder erfreuen oder staunen lassen. Um das Alter von zwei Monaten z.B. entwickeln sich die Bewegungskontrollzentren des Gehirns so, daß Babys plötzlich in der Lange sind, ein nahegelegenes Objekt zu ergreifen.
Um den vierten Lebensmonat herum beginnen sich jene Verbindungen zu verfeinern, die für Tiefenwahrnehmung und Fernsicht gebraucht werden. Um den 12. Lebensmonat herum sind die Sprachzentren des Gehirns bereit, das zu produzieren, was vielleicht den größten Moment der frühen Kindheit ausmacht: das erste Wort, das die Entwicklung der Sprache markiert. Die sensible Phase für den Erwerb des Satzbaus schließt sich bis ungefähr zum fünften oder sechsten Lebensjahr, die Perioden zum Dazulernen neuer Wörter hingegen scheinen nahezu unbefristet zu sein. Die Fähigkeit, eine zweite Sprache zu erlernen und akzentfrei zu sprechen, ist innerhalb des ersten Lebensjahrzehnts am größten.
Zwischen dem zehnten Lebensjahr und der Adoleszenz durchläuft das Gehirn dann eine große Veränderung im Gleichgewicht seiner Synapsen. Die schwächeren von ihnen werden unbarmherzig zerstört, und übrig bleiben nur jene, die durch wiederholte Erfahrung in den Jahren davor immer wieder verstärkt worden sind.
Man könnte es mit dem gärtnerischen Beschneiden eines Baumes vergleichen: Alle schwachen Triebe fallen der Gärtnerschere zum Opfer, damit die durch sie verbrauchte Energie den starken Trieben zugute kommt. Am Ende der Adoleszenz, um das 18. Lebensjahr herum, hat das Gehirn damit bereits eine wesentlich geringere Formbarkeit als früher, aber dafür eine höhere Kraft. Talente und Neigungen, die gepflegt worden sind, sind bereit zu erblühen; genetisch möglicherweise vorhandene Begabungen, die jedoch niemals gepflegt (oder überhaupt entdeckt) worden sind, beginnen zu verkümmern.
Psychiater und Psychologen haben seit langem um die Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen gewußt, aber bisher galten ihre Beobachtungen den anderen Fakultäten meist als anekdotisch. (Christa Meves z.B. hatte aus dem Erfahrungswissen sogar eine Antriebslehre entwickelt, pädagogisch umgesetzt und - trotz vieler Widerstände - intensiv verbreitet.) Heute endlich kann die moderne Neurowissenschaft den meßbaren Nachweis liefern, der früher gefehlt hat, und damit die Prioriät pädagogischer Bemühungen dieser Art bestätigen: Ergebnisse, die man unter dem Elektronenmikroskop oder einem PET-Raster sehen kann, wirken überzeugend - auch für andere Fachbereiche.
Welche Konsequenzen können wir nun aber aus diesen Ergebnissen für die frühe religiöse Erziehung unserer Kinder ziehen?
Für das kleine Kind haben Vater und Mutter die Aufgabe, Stellvertreter Gottes zu sein. Das Gottesbild jedes Menschen trägt oft weit bis ins Erwachsenenalter hinein (ja, oft sogar ein Leben lang!) die Charakterzüge der Erzieher des Kindes: Sind sie gütig, verzeihend, vertrauensvoll in ihrer Liebe? Oder sind sie über die Maßen fordernd, skrupulös, kalt, hart? Kann das Kind ihnen gegenüber spontane Gefühle der Dankbarkeit und des Gehorsams entwickeln, um später einmal auch Gott Dankbarkeit und Gehorsam zu schenken, oder entwickelt es eher Furcht und Abwehr (und später einmal eine ekklesiogene Neurose)?
Die wichtigste Voraussetzung für ein positives Gottesbild bildet daher die Nestwärme, die ein Kind in seiner allerersten Lebenszeit erfährt. Nur dadurch kann es Urvertrauen gegenüber dem Leben und dem Transzendenten entwickeln und später einmal die höheren Instanzen nicht als gefährlich, unberechenbar oder gar böse erleben.
Je geborgener sich ein Kind in seiner Familie fühlt, desto eher wird es auch ein Gespür für die biblischen Geschichten entfalten können, die man ihm schon früh durch Erzählen oder Vorlesen nahebringt, auch für gemeinsames Beten und für die Teilnahme an Messen und Gottesdiensten und anderen Formen des christlichen Rituals (allerdings immer in einer dem Alter des Kindes angemessenen Länge).
Es ist dabei nicht zwingend notwendig, daß das Kind schon alle Einzelheiten davon versteht; sondern das intensive Einbezogensein in christliche Tradition und Liturgie soll das verständnisvolle Vertrautwerden mit den überlieferten Glaubensaussagen allmählich ermöglichen.
Das hat allerdings nur dann Sinn, wenn die Kinder erfahren können, daß die ihnen nahegebrachten Werte auch im Alltag ihrer Familie gelebt werden, daß die Eltern respektvoll miteinander umgehen und eine mitmenschliche und barmherzige Haltung anderen gegenüber an den Tag legen. Erleben sie hingegen ihre Erzieher als lieblos im Alltag, als Menschen, die auf die Einhaltung der Glaubensgebote eher aus Gründen der Machtausübung pochen, so wird die Erziehung zur religiösen Form nicht nur keine guten Früchte im Leben dieser Kinder tragen können, sondern in ihnen womöglich Abscheu vor der Bigotterie der Christen hervorrufen und sie sich später völlig vom Glauben abkehren lassen.
Unangemessen ist es auch, Dinge wie Hölle, Verdammnis, Fegfeuer und dergleichen als ängstigende Erziehungsmittel bei den Kindern einzusetzen (z.B. wenn ein Kind getrotzt hat, ihm damit zu drohen). Bei sensiblen Kindern kann das schwere Ängste, seelische Schocks und Verhaltensstörungen auslösen. Auch ein verfrühtes Übermoralisieren, also ein zu frühes Erzwingen-Wollen von Tugenden, ist falsch. Kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, betont abgabebereit oder übergefügig zu sein. Wird eine solche Haltung streng eingefordert und wird von dem kleinen Kind im Namen des Glaubens viel Verzicht abverlangt, so erzielt man damit vielleicht Triebunterdrückung oder Triebverleugnung (und später einmal ein skrupulöses Gewissen mit fürchterlicher Angst vor einem strengen Richtergott), aber nicht unbedingt freudige und erlöste Christenmenschen. Religiöse Erziehung besteht im Grunde also in folgenden Schritten:
* Erstens die Einbergung des Kindes in eine liebevolle, geistig anregende Familie, um Urvertrauen, Neugier und eine positive Grundstimmung einzubahnen;
* zweitens die allmähliche Einbettung des Kindes in religiöses Ritual und Tradition (wobei zu achten ist, dabei maßvoll und in kleinen Schritten vorzugehen);
* und drittens das Vorleben des eigenen Glaubens durch die Eltern mit Versöhnungsbereitschaft, Mitmenschlichkeit und einer friedfertigen Haltung. Als Grundregel gilt dabei: Alles zu seiner Zeit, und alles mit Maß.
Werden Kinder auf diese Weise in den Glauben eingeführt (und werden - in der Terminologie der Hirnforschung ausgedrückt - diese ihre Synapsen durch wiederholte, regelmäßige Erfahrungen verstärkt), dann kann es vielleicht im Zuge der Pubertät dazu kommen, daß der junge Mensch eine Phase von Glaubenszweifeln durchmacht (um seinen eigenen, ganz persönlichen Weg zu finden); aber dann dürfen Eltern dennoch darauf hoffen, ihrem Kind ein Fundament mitgegeben zu haben, das "nicht auf Sand gebaut ist" - und das ihm in den Stürmen des Lebens, denen wir früher oder später alle ausgesetzt sind, mit Gottes Gnade den nötigen Halt und die nötige Stütze geben wird, um den richtigen Weg nicht zu verfehlen.
Siehe dazu auch das Buch von Christa Meves: Eltern-ABC - Elemente einer christlichen Erziehung.