16 Jahre ist es her, seitdem ich Frau Müller-Hofmann zum letzten Mal gesehen habe. Es war in einem ehemaligen Pensionat in Wien Breitensee, das recht einfach als Heim für Strafentlassene eingerichtet worden war. Damals war sie eine der Säulen einer Gruppe von Laien und Priestern, die sich um die Wiedereingliederung dieser Menschen in die Gesellschaft bemühten.
Kürzlich hatte ich erfahren, daß sie sich nach wie vor um Strafgefangene und Strafentlassene kümmert, und so rief ich sie an, um sie zu interviewen.
Heute, da ich sie in ihrer Wohnung am Rennweg zu einem Gespräch aufgesucht habe, fällt mir all das wieder ein.
Ich kann mich gut erinnern, daß sie und andere Frauen bei einigen der Männer im Heim Mutterstelle vertreten haben. In Breitensee waren ja überwiegend Männer untergebracht gewesen, die keinerlei Familienanschluß hatten. Meine Gastgeberin gibt mir lächelnd recht: "Ja, das stimmt. Wir haben uns viele Sorgen angehört. Die Männer sind mit vielen Problemen zu uns gekommen. Alle haben sie uns von ihrer Kindheit erzählt." Die Art, wie sie das sagt, zeigt mir, daß dies eine schöne Erfahrung gewesen sein muß. Anton Eder, damals Seelsorger im Landesgericht, der viele Jahre mit ihr zusammengearbeitet hat, erinnert sich bei einem Gespräch am Telefon: “Sie ist allen Heiminsassen liebevoll entgegengetreten. Nie habe ich sie unfreundlich erlebt. Dabei waren manchmal recht wilde und unangenehme Männer darunter. Dafür wurde sie von allen wie eine Mutter verehrt."
Das Schicksal einiger dieser Männer hat sie sogar jahrelang mitverfolgt. “Da war ein junger Mann, der nur ein einziges Mal eingesperrt gewesen und dem das schwer zu Herzen gegangen war. Aus Verzweiflung hat er angefangen zu trinken. Dem haben wir Arbeit verschafft. Fast immer hat einer von uns ihn abgeholt, um ihn vom Trinken abzuhalten. Eine von uns hat ihn oft in ihre Familie eingeladen. So hat er langsam zu trinken aufgehört, Schritt für Schritt zum Glauben gefunden und ist später nie wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Heute geht es ihm gut.”
“So mancher hat sich erfangen, wenn er selbst eine Familie gegründet hat. Denn - und das ist ganz wichtig - bei fast jedem war es die fehlende Familie, die fehlende Liebe bzw. große Probleme innerhalb der Familie, die die Wurzel des Übels waren. Sehr oft sind sie in Heimen gewesen, manche haben ihre Eltern gar nicht gekannt. Ich kann mich da an einen erinnern, der als erwachsener Mann noch verzweifelt seine Mutter suchte, die ihn als Kind weggelegt hatte.”
Viele der Männer, so erzählt sie mir, sind noch lange Zeit, nachdem sie das Heim schon verlassen hatten, am Wochenende zum Essen gekommen. Eben, wie in eine Familie.
Ich wollte nun wissen, wie eine so sanfte Dame dazu gekommen ist, sich für Strafgefangene und -entlassene, so einzusetzen. In ihrem äußerst gemütlichen Wohnzimmer hat sie mir bei einem Aperitif von ihrem Leben erzählt. Zart, elegant und weißhaarig sitzt sie mir gegenüber. Niemand, der sie so erzählen hört und sieht, würde glauben, daß sie schon 1902 (!) geboren wurde.
Aufgewachsen ist sie wohlbehütet in einer jüdischen Familie. Der Vater war Chirurg, die ganze Familie areligiös. Öfters nahm ihre irische Gouvernante sie sonntags in die (auch heute noch wegen ihrer Kirchenmusik bekannte) Augustinerkirche mit, ohne ihr allerdings je etwas über Sinn und Zweck der Messe zu erklären. Kunst und Musik ersetzten der Familie die Religion. Mit 20 hat sie geheiratet: einen katholischen Professor der Kunstgewerbeschule. Da ihr Mann ein religiös Suchender war, begann auch sie, sich für Glaube und Religion zu interessieren. Damals las sie zum ersten Mal die Evangelien. Hingezogen fühlt sie sich besonders zu Predigten in der Jesuitenkirche: “Ich begann, mich in den Glauben zu vertiefen. Sehr beeindruckt hat mich damals, daß ein bekannter jüdischer Psychiater mit seiner Frau katholisch wurde. Als wir unsere zwei Söhne bekamen, ließen wir sie taufen. Eines Tages kam dann die Frage, warum ich selbst nicht getauft sei. Ja, und so wurde ich mit 33 Jahren katholisch.”Also keine plötzliche Entscheidung, sondern eine, die in vielen Jahren gereift ist. Und doch hat erst das “Unglück mit Hitler”, wie sie es nennt, ihr so richtig gezeigt, “wo die Wahrheit und das Leben und das Unvergängliche ist. Das hat dann meinen Mann und mich dem Glauben noch näher gebracht.”
Es folgt die Zeit der Verfolgung: Man nimmt ihnen die Wohnung weg - die Kinder sind Gott sei Dank schon bei ihrem Bruder in Stockholm - und ihr Mann darf die Akademie nicht mehr betreten; zu sehr hat er seine Anti-Nazi-Gesinnung zum Ausdruck gebracht. Das Ehepaar ist in Wien nicht mehr in Sicherheit und übersiedelt in die Nähe des Chiemsees, wo es bis 1946 bleibt. Dann kommt die Rückkehr nach Wien. Ihr Mann wird rehabilitiert, stirbt aber schon zwei Jahre später. In Erinnerungen versunken erzählt sie weiter: "Ich wollte in dieser Phase meines Lebens etwas für die Kirche tun. Außer Kirchensteuer einzumahnen, hatte man aber keine Verwendung für mich.” Das habe ihr aber nicht so zugesagt, weil sie zuviel Verständnis für die säumigen Zahler hatte, erzählt sie lachend.
1949 hört sie von der Legio Mariae. Deren zwei Ziele, persönliche Heiligung und apostolische Arbeit, gefallen ihr. Sie ist in Österreich eine der ersten in dieser Bewegung und bis heute dabei geblieben.
Vor lauter Fragen sind wir noch gar nicht dazu gekommen, uns zuzuprosten. Das holen wir nun nach, bevor ich wissen möchte, welche Aufgaben sie im Laufe der Jahre - es müssen ungefähr 40 sein - übernommen hat.
“Da waren zunächst einmal die Hausbesuche für die Pfarre. Jeder aus unserer Legio-Gruppe hat drei Häuser zugewiesen bekommen. In diesen haben wir die Leute besucht.” Ich stelle mir vor, daß diese Kontaktaufnahme mit wildfremden Leuten doch sehr schwierig und oft mit unangenehmenen Erfahrungen verbunden gewesen sein muß. Aber ganz im Gegenteil: “Das war sehr schön damals - auch bei Leuten, die keinen Glauben hatten. Die Menschen waren nach dem Krieg anders. Wir hatten viele gute Gespräche, auch über persönliche Probleme und Glaubenszweifel. Die meisten Leute waren offener, irgendwie noch berührt von dem, was sie im Krieg erlebt hatten. Oft ist man sich in solchen Gesprächen sehr nahe gekommen.”
Ob das heute auch noch so ist, will ich wissen. Hermine Müller-Hofmann dazu: “Solche Gespräche haben sich nach den 60er Jahren mit dem Fernsehen und dem Wohlstand mehr oder weniger aufgehört."
Ein anderes ihrer Betätigungsfelder war die Betreuung von Frauen, die von der Prostitution wegkommen wollten. Jeweils 6 bis 8 Frauen waren in einem Heim untergebracht und wurden Tag und Nacht begleitet, um Rückfälle zu verhindern. Einige Jahre hat sie dort mitgewirkt. Mehreren Frauen konnte geholfen werden. Jedoch auch hier wurde es mit Beginn des Wohlstandes schwieriger: “Die Frauen waren religiös immer weniger ansprechbar, und es ging ihnen materiell so gut, daß mit der Zeit keine mehr kamen. Das Heim wurde Ende der 60er Jahre aufgelassen.”
Dann war da auch die Arbeit mit den Blinden und Taubblinden. 15 Jahre lang hat sie diese besucht und sich als Chauffeur betätigt, wenn Blinde sich treffen wollten. Viele Ausflüge und Wallfahrten wurden in dieser Zeit mit den Blinden organisiert.
Ja, und dann hat Professor Wessely, der Gründer der Legio Mariae, sie gefragt, ob sie nicht etwas für die Strafgefangenen machen könnte. Zuerst hat sie sich das nicht zugetraut. Aber dann beriet sie sich mit Rektor Eder, der als Seelsorger im Landesgericht für Strafsachen in Wien tätig war. Dieser hatte schon lange auf so eine Initiative gewartet. Er erinnert sich heute: “Sie schickt der Himmel”, habe ich ihr damals gesagt.”
Zunächst einmal suchte Hermine Müller-Hofmann 5 weitere Mitarbeiter für ihr neues Unternehmen: “Wir haben Leute im Landesgericht und auch deren Angehörige besucht, waren mit ihnen in Briefkontakt.”
Bald erwies sich die Einrichtung eines Heimes für solche, die aus dem Gefängnis entlassen werden und ohne Mittel und Hilfe dastehen, als dringend notwendig. Ein erstes Heim entstand in der Fischerstiege (geführt von Pater Bianchi). Ein Jahr später, 1970 bezogen die Mitarbeiter der Legio Mariäe mit dem Rektor Eder das schon erwähnte Heim in Breitensee. Dazu Eder, jetzt Pfarrer von Stockerau: “Also das war ja zuerst eine richtige Wanzenburg. Frau Müller-Hofmann und die anderen haben dort von Anfang an jede Arbeit gemacht. Keine haben sie abgelehnt. Niemand hätte das dieser zarten, aristokratisch wirkenden, älteren Dame zugetraut. Sicher hat sie in ihrer Jugend nie ähnliches machen müssen.”
Was sie denn im Heim zu tun gehabt habe, nachdem es den Betrieb aufgenommen hatte, möchte ich nun von ihr selbst wissen: “Wir haben gekocht, aufgeräumt und vor allem mit den Leuten gesprochen. Es herrschte dort ein sehr familiäres Verhältnis”, erinnert sie sich. Das Haus in Breitensee wurde dann leider verkauft und im jetzigen Haus der Diözese, in dem sie nach wie vor Dienste versieht, ist die Gesprächsmöglichkeit ungünstiger geworden. Jeder der Bewohner hat ein eigenes Zimmer plus Küche und bleibt daher auch eher allein in den eigenen vier Wänden.
Ausgiebige und gute Gespräche, die eine wirkliche Hilfe und Unterstützung für die Betreuten sein können, sagt sie, sind noch am Mittersteig möglich. Dort gibt es nämlich ein Heim für psychisch stark belastete Strafgefangene, die meist sehr lange “sitzen” mußten. Hat es ihr je leid getan, soviel Zeit, Energie und Liebe in soviele Menschen investiert zu haben bzw. noch immer zu investieren?
Ganz verwundert antwortet sie mir sehr spontan: "Nein, und es ist auch ganz leicht gewesen, weil es Menschen sind, die uns brauchen. Wir erkennen dabei, daß in jedem Menschen so viel Gutes ist und versuchen mit der Hilfe der Muttergottes, in jedem von ihnen Christus zu sehen. Ich bin dadurch sehr beschenkt worden, habe so viel Schönes, so viel Freude erlebt und sehr oft auch meine eigenen Sorgen und Probleme ganz vergessen.” Und wie war das mit den Enttäuschungen? “Enttäuschungen kennen wir nicht. Rektor Eder hat uns einmal, nachdem er eine erschütternde, vollkommene Umkehr bei einem Menschen erlebt hatte, gesagt: “Kein Wort und keine Bemühung gehen verloren. Wir wissen gar nicht, wann etwas aufbricht”.
Schließen möchte ich mit Worten von Pfarrer Eder: "Alles, was Frau Müller-Hofmann macht, tut sie für die Hilfsbedürftigen. Ihr Einfühlungsvermögen ist enorm. Wichtig ist ihr immer der einzelne Mensch. Ich halte sie für eine der stillen, unbekannten Heiligen in dieser Zeit, außergewöhnlich in ihrem Einsatz für die Mitmenschen und mit einer echten marianischen Frömmigkeit (die Maria als Mittlerin und Helferin sieht, aber Jesus als das eigentliche Ziel). Sie hat zwar keine offensichtlichen Wunder gewirkt, aber das “Kleine”, das sie macht, wird unter ihren Händen außergewöhnlich groß.”
Alexa Gaspari