Mit der Natur zu argumentieren, kann in zwei Weisen zu einem Fehlschluß führen. Die schwächere Weise lautet: Wenn etwas in der Natur auch vorkommt, dann kann es nicht moralisch verboten sein. Die stärkere lautet: Wenn etwas in der Natur vorkommt, dann ist es auch geboten. Beide Weisen haben zunächst auch Vernünftiges auf ihrer Seite.
Es kann etwas nicht gut als moralisch gelten, wenn es ganz gegen die biologische Natur des Menschen steht, also z.B. das Essen, Trinken, Schlafen oder die Partnerschaft absolut verbietet. Das sagt zwar nichts aus über die Vernünftigkeit von freiwilliger Askese (die das Tier nicht kennt!), wohl aber etwas darüber, daß Natur und Moralität einander nicht absolut gegenüberstehen.
Nur verkehrt sich dies Vernünftige bei beiden Weisen des Fehlschlusses in sein Gegenteil. Man kann das an einem vielleicht abgenutzten, aber doch schlecht zu widerlegenden Beispiel klarmachen.
Zwei Spaziergänger werden von je einem herabfallenden Dachziegel erschlagen. Das eine Mal hat ihn der Wind herabgeweht, das andere Mal wurde er von einem Menschen gezielt herabgeschleudert. Vor dem Richter rechtfertigt sich dieser Mensch damit, daß er nur etwas gemacht habe, was auch in der Natur vorkomme und dort als wohlerprobtes Verfahren zur Beseitigung lästiger Bergsteiger unter dem Namen "Steinschlag" firmiere.
In der starken Variante müßte er sogar sagen, daß es für ihn, weil es in der Natur vorkomme, sogar geboten gewesen sei und alle anderen schuldig würden, die nicht handelten wie er.
Abgesehen davon, daß man ihm selber gleich einen Ziegel auf’s Dach zu senden geneigt ist, erhellt dieses Beispiel folgendes: Die Berufung auf Natur legitimiert prinzipiell nichts, sondern sie hebt den Begriff Rechtfertigung auf. Die Natur ist weder rechtfertigungsbedürftig noch rechtfertigungsfähig; rechtfertigungsbedürftig sind Handlungen des Menschen, und zwar gerade insofern, als sie keine Naturereignisse sind.
Der Autor ist Professor für Philosophie in Hannover, Deutschland.