Was sind Sie? Hausfrau...? Ach so. Wie oft bekommen Frauen diese mit mitleidigem Ton gesprochenen Worte zu hören? Was aber hat doch Martha Paster - trotz schwerster Behinderung - nicht alles aus einem solchen Hausfrauenleben gemacht!
Ich sitze wieder einmal bei einer Tasse Tee in der Wohnung von Martha Paster im 20. Wiener Gemeindebezirk - diesmal, um sie zu interviewen. Am auffallendsten an ihr sind der innere Frieden und die von Herzen kommende Freude, die sie ausstrahlt.
Kennengelernt habe ich sie schon vor 14 Jahren in St. Gabriel bei Wien, anläßlich eines internationalen Treffens der Krankenfraternität, einer Organisation von kranken und behinderten Menschen für Kranke und Behinderte. Was mich damals fasziniert hat, war, daß unter diesen schwerkranken und behinderten Menschen aus aller Herren Länder nicht Verzagtheit und Depression herrschten, sondem ein fröhliches, ja unbeschwertes Klima.
Mitverantwortlich für dieses Treffen war Martha. Wie kam sie, die selbst seit ihrer Geburt schwer behindert ist, zu dieser Aufgabe? Auf meine Frage erzählt sie mir von ihrem Leben.
Vom ersten Tag an war es von Krankheit geprägt. Diese äußert sich so, daß die Venenwände eines ihrer Beine mit Blutschwämmen übersäht sind. Sie treten bei ihr auch in Milz und Leber auf. "Ich konnte schon als Kind nie gerade gehen und hatte immer Schmerzen. Damals habe ich sehr viel geweint. Wenn ich besonders arge Schmerzen hatte, bin ich im Bett gesessen, habe mit den Händen das kranke Knie gehalten und die Stirn daraufgelegt. In dieser Haltung habe ich dann auch geschlafen", erinnert sich Martha an ihre Kindheit.
Das Knie wurde immer dicker, die Knorpelteile und Bänder waren bald ganz zerstört, das Gelenk hatte keinen Halt mehr und sprang immer wieder aus der Kapsel. So sah man sich im Jahr 1945 gezwungen, das Bein gestreckt einzugipsen, um es steif werden zu lassen.
All das wußte ich in all den Jahren, die wir uns nun schon kennen, gar nicht. Daß ihr Bein nicht in Ordnung ist, hatte ich wohl bemerkt, aber irgendwie schien das für sie selbst so bedeutungslos zu sein, daß ich nie besonders darauf geachtet hatte.
Nun will ich von ihr wissen, ob sie als Kind mit ihrem Schicksal gehadert hat. Sie lächelt: "Eigentlich nicht". Erstaunlicherweise dachte sie damals folgendes: "Ich war restlos begeistert von meiner um 10 Jahre jüngeren Schwester und habe die ganze Liebe, nach der ich mich selbst immer gesehnt hatte, und die mir meine Eltern aus verschiedenen Gründen nicht zeigen konnten, auf dieses Kind übertragen. Und da ist mir immer wieder der Gedanke gekommen: Hätte dieses zarte Kind mein Leiden, wäre das furchtbar... Besser, wenn ich es habe. Ich bin ja viel robuster."
Dabei ist zu bedenken, daß ihre Leiden keine Kleinigkeit waren. Oft wurden ihre Schmerzen so unerträglich, daß sie kaum den Luftdruck, der beim normalen Gehen das Knie streift, aushalten konnte. Dann konnte sie das Bein nur auf die Seite gedreht weiterbewegen, um den Luftzug möglichst zu vermeiden.
Mittlerweile läutet zum zweiten Mal das Telefon: "Paster, Grüß Gott", meldet sich Martha freundlich und mir fällt ein, daß ich mich bei jedem Telefongespräch über diese Begrüßung freue. Noch nie hatte ich den Eindruck, unwillkommen zu sein. Nach dem Telefonat und einem Schluck Tee erzählt sie weiter: Nach Abschluß der Schule mußte sie zu Hause arbeiten, schwer arbeiten, denn ihre Eltern hatten ihr von Kindheit an nichts erspart. So mußte sie z.B. regelmäßig die Stube aufreiben - liegend, weil sie ja nicht knien konnte - und schwere Getreidesäcke schleppen.
Beklagt sie sich heute darüber? Sie überlegt nicht lange. Ihre Antwort ist "nein". Ganz ruhig meint sie, auch das hätte seinen Sinn gehabt, so schmerzlich es gewesen sei. Sie wäre nie so widerstandsfähig geworden und hätte nicht all das aushalten können, was später auf sie zugekommen ist: etwa die Geburt ihrer beiden Kinder.
Zunächst hatte sie ja nicht an Heirat gedacht, wollte niemanden mit ihrer Behinderung belasten. Doch als sie Adolph, ihren späteren Mann kennenlemt, ist es, wie sie lächelnd sagt, bei beiden: "Liebe auf den ersten Blick". Er nimmt sie an, so wie sie ist: "Das tragen wir miteinander", sagt er. Er sieht vor allem sie, nicht ihr krankes Bein.
Ihr erstes Kind verliert sie schon in den ersten Monaten. Als sie knapp vor der Entbindung ihres zweiten Kindes steht, wird ihr klar, daß auf Grund ihrer Behinderung die Geburt schwer, vielleicht sogar sehr schwer sein würde. Daher bittet sie den Arzt schon vorher, nötigenfalls auf sie keine Rücksicht zu nehmen. Sie möchte ihrem Mann im Ernstfall ersparen, vor die Wahl gestellt zu werden, sich entweder für die Mutter oder das Kind entscheiden zu müssen. Wichtig ist ihr, daß das Kind lebt. Mit vielen Schwierigkeiten kommt ihre Tochter wie durch ein Wunder gesund auf die Welt. Nur wenige Monate später wird sie zum Entsetzen des Arztes wieder schwanger: Bernhard ist unterwegs...
Mittlerweile hat das Telefon noch ein paar Mal geläutet. Wäre ich nicht hier, würde sie wahrscheinlich schon in der Straßenbahn sitzen, unterwegs zu jemandem, der sie braucht. So reagiert sie nämlich, selbst wenn es ihr gar nicht gut geht.
Aber wieder zurück zu ihrem Bericht: In ihrer ersten Wohnung in Wien ist das Leben mühsam. Es gibt Wasser nur am Gang - 6 Stufen rauf, 6 Stufen runter - und von Wegwerfwindeln keine Rede. Die 10 Windeln und das Wenige, was sie an Wäsche besitzen, muß sie täglich waschen.
Dann 1961 endlich eine Erholung: Pilgerfahrt nach Lourdes, zum ersten Mal ist sie außerhalb von Niederösterreich. Sie wäre schon sehr geme gesund und leistungsfähig und möchte die Muttergottes um Heilung bitten. Angesichts der Schwerkranken, die sie in Lourdes sieht, hofft sie nur noch auf die Heilung eines dieser noch schwerer erkrankten Menschen, wünscht sich aber, diese Fahrt möge auf andere Weise ihr Leben verändern.
Und dann nimmt sie an einem Kreuzweg teil. "Wo stehst Du an diesem Weg?", fragt ein Priester die Pilger. Und sie erkennt sich in der heiligen Veronika wieder, die im richtigen Augenblick dem leidenden Christus, dem leidenden Menschen, zuhilfe kam. Derselbe Priester erzählt ihr später von der Fraternität und bittet Martha, diese Bewegung nach Österreich zu bringen. Zuerst lehnt sie das ab, traut es sich nicht zu.. Dann fällt ihr die heilige Veronika ein, und sie will es versuchen.
Bei ihrem ersten Treffen mit möglichen Mitarbeitern bekommt sie ihren ersten Lungeninfarkt. Sie muß das Bett hüten. Nach 6 Wochen bekommt sie prompt die nächste Thrombose. Von den nächsten 5 Jahren verbringt sie fast drei im Bett. Manchmal liegt sie 6 bis 7 Monate ununterbrochen, kann nicht das Haus verlassen. Dennoch beginnt sie langsam mit der Arbeit für die Fraternität.
Diese schwere Zeit der ersten Infarkte - bis zum heutigen Tag hat sie an die 180 Infarkte überstanden! - sieht Martha als "Vorbereitung" für ihre spätere Arbeit an. Sie erlebt eine Umkehr: "Bis dahin meinte ich, Gott und der Welt beweisen zu müssen, daß ich ein vollwertiger Mensch bin. Dieser Gedanke hatte mich angespornt. Ich wollte eine 150prozentige Hausfrau sein, war überpenibel. In dieser Zeit mußten die Kinder - sie waren beide im Kindergartenalter - kochen, Haushalt führen und mich betreuen. Es sah dementsprechend aus. Aber war mein Leben jetzt nichts mehr wert, nur weil ich ständig im Bett lag und die Wohnung nicht in Schuß halten konnte? Ich kam darauf, daß andere Werte im Leben wichtiger waren als Leistung." Und sie lemt in einem langwierigen Prozeß, nach vielen inneren Kämpfen zu sagen: "Ja, Herr, ich bin bereit, mein Leben in Deine Hände zu geben."
Dennoch mobilisiert sie - als ganz natürliche Reaktion - zwischen den Infarkten immer wieder alle Kräfte, um zu überleben. "Also ehrlich: Daß ich noch Enkelkinder erleben würde, habe ich mir damals nicht vorstellen können", sagt sie mir, "denn bei jedem Infarkt war mir klar, daß dies die letzten Sekunden meines Lebens sein könnten." Mit der Zeit lernt sie, die Infarkte schneller zu überwinden und liegt manchmal nur mehr 2 Tage.
So ergab sich trotz allem die Möglichkeit, auf andere Menschen zuzugehen. Sie hatte gelernt, den Menschen, vor allem den kranken Menschen, zu begleiten und zu ermuntern, damit er die eigenen Möglichkeiten entdecken kann. Das entspricht ganz dem in der Fratemität immer wieder verwendeten Satz: Steh auf und geh. Sie erklärt mir, daß man immer zuerst den Menschen und dann erst seine Behinderung sehen muß.
"Durch die Infarkte habe ich die Bedeutung von Geduld, Verstehen und Liebe greifbar verstehen gelernt, und ich habe bewußt versucht, dies zu üben. Einmal hatte ich eine dringende Arbeit zu erledigen. Den ganzen Tag hat dann aber das Telefon geläutet: 31 Mal. Leute, die Hilfe brauchten, Sorgen hatten oder nur eine Auskunft wollten. Erst war ich recht unglücklich, doch dann habe ich mir gedacht: Diese Menschen brauchen mich jetzt, sonst würden sie ja nicht anrufen. Und ich habe versucht, mich auf jeden einzelnen einzustellen. Erst am Abend bin ich zu meiner Arbeit gekommen und - oh Wunder - sie ist mir auf Anhieb gelungen! Das war mir ein Zeichen, daß für Gott diese Begegnungen wichtig waren."
Auf meine Frage, was ihr eigenes Leid rückblickend für sie bedeutet, antwortet sie: "Ich bin sicher, daß alles, was ich erlebt habe - auch das Schwere und Schmerzliche -, wichtig war. Ich habe einfach erkannt: All das Negative hat mich auf den Platz gestellt, wo Gott mich haben wollte. Wieviel Positives ist da gewachsen! So gesehen, sage ich auch in schwierigen Situationen: "Herr, ich danke Dir dafür, daß mich dieses Leid ein Stück jenem Platz näher bringt, den Du für mich vorgesehen hast."
Und ihre Ehe? Da gab es doch so viel Schwieriges miteinander zu bewältigen. Kann eine Ehe das aushalten? Ja. Und das spürt jeder, der Martha und Adolph kennenlemt. Denn sie wachsen miteinander im Glauben. Als sie sich kennenlernten, hatte Martha gerade den ersten Schritt auf Gott zu gemacht. In einem nicht religiösen Haus aufgewachsen, war ihr in einer verzweifelten Situation ein Satz aus dem Religionsunterricht eingefallen: "Treue um Treue". So bat sie Gott - wenn es Ihn gab - um seine Hilfe und versprach Ihm Treue. Und Gott eröffnete einen Weg. Von da an blieb sie Jesus treu und erlebt, daß "Glaube eine Realität ist, die mich trägt".
Durch den gemeinsamen Glauben hat sich bei beiden viel verändert. Leistung und Wohlstand stehen nicht mehr an erster Stelle in ihrem Leben. Man braucht sich bei ihnen nur umzusehen. Spürbar zeugt vieles von der lebensbejahenden Arbeit dieses Paares: Fotos von der Fraternität, Mitbringsel aus Afrika, die von Adolphs Entwicklungshilfetätigkeit stammen. Und noch etwas: Weil Martha stets mit dem Tod rechnen muß, trennen sich beide nie, wenn nicht alles bereinigt ist, was zwischen ihnen steht. Dieses stete aufeinander Zugehen hat die Beziehung der Pasters zueinander sehr vertieft. Wenn man sie so nach 35jähriger Ehe betrachtet, sieht man jedenfalls, daß sie miteinander glücklich sind. Wie kann ich da anders als froh und stolz darauf sein, sie als Freunde zu haben, und mich mit ihnen über ihr fünftes neugeborenes Enkelkind zu freuen?!
Alexa Gaspari