Er ist Kanadier, Doktor der Philosphie und war Marineoffizier, bis er den Ruf vernahm, in Frankreich die "Arche" von und mit geistig behinderten Menschen zu gründen. Heute gibt es bereits 600 solche Gemeinschaften in 37 Ländern.
Jean Vanier erzählt uns von seinen Erfahrungen.
Nimmt man Menschen mit einer geistigen Behinderung auf , so begreift man ganz unmittelbar ihren Anruf, etwas, was ich “Urschrei” nennen würde; es ist der Ruf, als menschliches Wesen anerkannt zu werden, als Subjekt, als Person. Dieser Schrei kann eine Anfrage sein, die über die Augen oder die Körperhaltung vermittelt wird. Er kann sich aber auch artikulieren mit den Worten: “Komm doch zu uns!”, “Wie heißt du? Ich heiße...”, “Ich mag dich, hast du mich auch lieb?”
Manchmal ist diese Anfrage harmonisch: der Ausdruck mittels Gesten und Sprache steht im Einklang mit der Botschaft. Aber in manchen Fällen fehlt diese Übereinstimmung. Diejenigen, die diesen Ruf ausstoßen, können depressiv oder aggressiv sein. Was die Liebe anbelangt, haben sie Enttäuschungen erlebt. Sie stehen daher unter dem Eindruck, daß sie nicht liebenswert sind. Ihr Ruf kommt dann verkehrt heraus, wenn ich so sagen darf: Er erklingt in der Gewalt, der Depression, der Selbstverstümmelung. Ja, man kann gewalttätig sein, um auf sich aufmerksam zu machen, damit die anderen reagieren (wie ein Kind, das Unfug treibt, weil es vorzieht, bestraft zu werden, als sich allein zu fühlen). Aber es erklingt immer derselbe Ruf: “Bin ich wertvoll?”
Jedem Menschen stellt sich diese grundsätzliche Frage: “Habe ich einen Wert?” Wer das Vertrauen in den Kern seiner Person verloren hat, versucht oft, sich durch Taten selbst zu bestätigen. Aber diese Bestätigung durch Aktivität ist oft eine Flucht vor Beziehungen. Dieses Verhalten können Sie bei Geschäftsleuten oder Intellektuellen finden. Sie wissen und leisten viel, aber genaugenommen sind sie unsicher, ob man sie in der Tiefe ihres Wesen lieben kann.
Weil sie aber fast sicher annehmen, daß sie nicht liebenswert seien, müssen sie sich auf das Tun stürzen - auf der Suche nach Anerkennung und Macht.
Dieser Wunsch, etwas zu tun, bewundert zu werden, zu beherrschen, kommt sehr oft aus einem Herzen, das in der Kindheit verletzt worden ist. Wird ein Kind nämlich geliebt - und zwar so, wie es ist, mit all seiner Verletztlichkeit, dann fühlt es sich sicher, dann lebt es in Frieden.
Fühlt es sich aber abgelehnt, spürt es, daß es seinen Eltern zur Last fällt und daß man es nicht so annimmt, wie es nun einmal ist, dann wachsen in ihm Barrieren, die ihm bedeuten: “Ich muß mich allein durchschlagen. Ich werde doch nicht so verwundbar bleiben.” Und das ist die Geburtsstunde eines Ich, das um sich selbst kreist und das sich rasch verhärtet.
Was ist nun eine wahrhafte Beziehung? Sie ist weder ablehnend, noch besitzergreifend. Viele Kinder aber sind stark von ihren Eltern dominiert worden und haben den Eindruck, daß ihre Existenzberechtigung einzig darin besteht, den Vorstellungen dieser Eltern zu entsprechen. Sie haben den Satz im Ohr: “Ich mag dich, wenn du Erfolg hast, wenn du brav bist...” Nie aber haben sie gehört: “Ich mag dich, weil du mein Sohn, meine Tochter bist, und ich will, daß du glücklich wirst.”
Entdeckt ein Kind, daß es geliebt wird, so wie es nun einmal ist, dann merkt es auch, daß es sich seinem Wesen entsprechend geben darf.
Den anderen so zu nehmen, wie er ist, heißt, ihn zu lieben und ihn anzunehmen mit seinen Verletzungen und mit seinen Gaben. Das Wichtigste ist nun, die Menschen entdecken zu lassen, daß sie ein Recht haben, verletzt zu sein, daß dies weder außergewöhnlich noch schändlich ist, daß sie keine Ablehnung wegen ihrer Auffälligkeiten erfahren werden. Es ist nämlich schwer, mit Verletzungen zu leben!
Diese Verletzungen sind jedoch nicht die einzigen Merkmale der Person. Sie verfügt ja auch über Gaben, über eine tiefe Schönheit - selbst wenn all das verborgen und vergraben ist. Eine wahrhaft menschliche Beziehung besteht nun darin, die Verletzung des anderen mitzutragen und seine Begabung zu fördern. Das heißt, alles Positive und Schöne an ihm zu entdecken: daß er fähig ist zu lächeln, der Gemeinschaft einen Dienst zu leisten, zu arbeiten, daß seine Gegenwart Friede verbreitet oder daß man einfach gem bei ihm ist.
Wo aber nehmen wir die Kraft zu solcher Aufnahmebereitschaft her? Jeder von uns ist doch selbst so verletzt in seiner Beziehungsfähigkeit.
Dazu ist viel Liebe notwendig, viel Offenheit, viel gegenseitige Unterstützung. Noch tiefer betrachtet: Man braucht dazu Erfahrungen mit Gott, mit Jesus, der mich so annimmt, wie ich bin, mit meiner Zerbrechlichkeit und mit meinen Verletzungen. Diese liegen tief in uns, so tief, daß viele Menschen sie gar nicht einmal wahrnehmen.
Nun glaube ich aber, daß man die Verletztheit des anderen nur annehmen kann, wenn man sich seiner eigenen gestellt hat. In gleicher Weise entdeckt man die Begabung des anderen nur, wenn man sich der eigenen Gabe stellt.
Gerade das ist aber “gefährlich”, bedeutet es doch gleichzeitig, diese Begabung auch auszuüben, sie zu nähren und zu läutern. Jeder trägt Verantwortung für seine Gabe.
Um in eine wahrhaftige Beziehung einzutreten, muß ich also meine Verletzlichkeit angenommen haben. Bin ich nämlich etwa über mich verägert, weil ich nicht das psychologische Talent, das ich gerne hätte, besitze, dann werde ich mit den Schwächen des anderen nicht zurecht kommen. Meine eigene Verwundung kann ich aber nur annehmen, wenn ich entdeckt habe, daß Gott mich liebt, daß mich Jesus mit meinen Wunden annimmt.
Und es ist gar nicht sicher, daß er diese Wunden heilen wird. Meistens - das ist zumindest meine Erfahrung - behalten die Menschen ihre Verletzungen - zumindest die eine oder andere. Jesus läßt uns entdecken, daß er uns liebt, wie wir sind. Und wenn wir Dummheiten machen, Sünden begehen, vergibt er uns. Das ist das Geheimnis Seiner Barmherzigkeit.
Betroffen habe ich festgestellt, daß man umso verwundbarer wird, je mehr man sich in Beziehungen einläßt. Man wird nicht etwa stärker. Denn im Zwischenmenschlichen gibt es keine Technik. Da heißt es, sich auszuliefern, etwas zu riskieren. Wer sich in eine Beziehung einläßt, muß damit rechnen zu leiden, verwundet zu werden.
Um dieses Risiko tragen zu können, muß man mit der Gegenwart Gottes rechnen. Und man braucht jemanden, der einen begleitet, um dich zu stützen und zu bestärken. In schweren Stunden nämlich, wenn unsere eigenen Schwächen berührt werden, hat man nämlich den Eindruck, niemals wirklich etwas zustande bringen zu können. Dann braucht man Begleitung, braucht man jemanden, der uns daran erinnert, daß diese Schwierigkeit nur ein Übergang ist und daß wir dabei sind, tiefer in unser Wesen einzudringen. Ganz langsam entdecken wir dann das Leben wieder und unsere Fähigkeit, anderen Leben zu spenden.
Jean Vanier