VISION 20002/1989
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Im Leid das Leben entdecken

Artikel drucken (Silvio Crosina und Maria Engleitner)

Was wurde nicht alles über die Morde im Krankenhaus Lainz geschrieben! Ist nicht längst alles gesagt? Nein: In der Diskussion kam die Frage nach dem Stellenwert von Leid und Glauben zu kurz. Wir haben dazu einen Krankenhausseelsorger und eine Diplomkrankenschwester zu Wort kommen lassen. Und wir freuen uns über die klaren Stellungnahmen unserer Bischöfe.

Kranksein stellt den Ernstfall des Glaubens.dar. Da bröckelt ab, was an oberflächlichen Glaubensvorstellungen vorhanden sein mag. Wo aber jemand wirklich Zugang zu Gott gefunden hat und spürt "Ich bin von Gott geliebt und kann von Ihm etwas erwarten, auf Ihn vertrauen”, da ist eine Basis gegeben, die dem Menschen hilft, auch durch schwierigste Situationen zu gehen.

Oft bemerke ich etwas Erschütterndes: Viele Leute sind in ihrer Religiosität in ihrer Kindheit stehengeblieben. Selbst Christen, die Sonntag für Sonntag in die Kirche gegangen sind, erleben sich im tiefsten Inneren wertlos, sobald sie ernsthaft krank sind.

Mir selbst war lange Zeit hindurch nicht bewußt, daß ich mich genau so verhielt. Während meines Studiums ist mir das langsam aufgegangen. Da habe ich viele Jahre hindurch eine Frau im Altersheim Lainz besucht, die Jahre lang in einem 6-Bett-Zimmer gelegen ist, und von ihr viel gelernt. Sie mußte durch ihre Lebensumstände andere ertragen und hat dabei beachtliche Eigenschaften entwickelt: Verständnis, Geduld, Dankbarkeit. Wichtig waren ihr Begegnung, gegenseitiges Verstehen, Zuhören. Sie hätte beispielsweise ihrer Familie, die im Dauerstreit gelebt hat, Wesentliches zu sagen gehabt.

Und darauf will ich hinaus: Die Beziehung zwischen Menschen ist niemals eine Einbahnstraße. Jeder Mensch kann lieben, in jeder Lebenssituation - auch wenn er nichts mehr "leisten" kann.

Das zu erkennen, ist die große Chance des Menschen in der Extremsituation des Krankenhauses. Und manche Menschen erkennen dies hier auch wirklich. Ich erinnere mich da an zwei Männer. Nach einer schweren Operation ist es dem einen elend gegangen. Ich entdeckte ihn zufällig bei einem Rundgang. Er ist freundlich, als ich ihn anspreche, gibt mir aber zu verstehen, er wolle eigentlich nichts mit mir zu tun haben. Seine Frau, tiefreligiös, kommt aber ein paar Tage später zu mir - verzweifelt. Ihr Mann liege in Agonie. Ich solle ihm die Krankensalbung spenden.

Tatsächlich - als ich an seinem Bett stehe: ein schrecklicher Anblick. Die Frau ist am Rande ihrer Kräfte, ihr einziger Wunsch: die Krankensalbung. Nun hätte ich sicher die Salbung spenden können. Mir fällt aber ein, daß er ja nichts mit mir zu tun haben wollte. Soll ich mich darüber hinwegsetzen? Ich versuche daher, ihn anzusprechen: "Wollen Sie die Krankensalbung?" Nein, gibt er mir zu verstehen. "Das kann ich verstehen”, sage ich darauf, "es geht Ihnen einfach zu schlecht."

Da bricht es plötzlich aus ihm heraus, und er erzählt seine ganze schreckliche Lebensgeschichte. Seine Frau ist außer sich. Vieles hört sie zum ersten Mal. Seine schlimmen Erfahrungen haben ihm die Einsicht für die Existenz eines guten Gottes versperrt.

Mir wird klar: Dieser Mann kann die Sakramentenspendung nicht wirklich vollziehen, und ich sage ihm: "Sie können all dieses Elend Gott - wenn es Ihn gibt - hinwerfen. Aber weil Ihre Frau und ich andere Erfahrungen haben, erlauben Sie, daß wir für Sie beten? Er nickt. Wir beten für ihn. Und da geschieht es: Dieser verbitterte Mann kann plötzlich sich und sein Leben annehmen, er ist erlöst. Seine Fran erkennt ihn nicht wieder. Am nächsten Tag begrüßt er mich freudig. Es war ein letztes Aufflackern seines Lebens, in dessen letzten Tagen wir noch mehrmals miteinander gebetet haben.

Daß seine Frau ihn nicht mit dem Sakrament zwangsbeglückt hatte, eröffnete ihm die Erfahrung dafür, daß er auch in seiner aussichtslosen Lage nicht einfach nur Objekt ihrer Entscheidungen, sondern wertvoller Partner gewesen war. Und die letzten Tage dieses Mannes waren wie ein Wunder: Er ist trotz furchtbarer Schmerzen zufrieden gestorben.

Und noch von einer zweiten Erfahrung möchte ich erzählen: Am Karfreitag werde ich gebeten, zu einem sterbenden Patienten zu kommen. Ich gehe zu ihm, aber er ist nicht ansprechbar. Die Ärztin rät mir, am Nachmittag wiederzukommen. Da habe ich viel zu tun - und ich vergesse diesen Mann!

Am Karsamstag werde ich an den Patienten erinnert. Und wieder: Ein Beichtgespräch nach dem anderen. Ich komme nicht hin. Furchtbar. Ein totales Versagen. Endlich um halb fünf Uhr kann ich den Besuch einschieben, bin gehetzt und daher verzagt. Dann stehe ich vor dem Zimmer: Visite. Ich kann nicht hinein! Im Gang warten eine Frau und zwei junge Leute. Ich spreche sie nebenbei an und entdecke: Es ist die Familie des Patienten, den ich besuchen will. Und so erfahre ich Wesentliches über das Leben dieses Mannes, der ein tiefes Vertrauen zu Gott hat.

Und dann kann ich endlich ins Krankenzimmer und - nächstes Wunder - der Kranke ist halbwegs bei sich. Er freut sich sehr über mein Kommen, ist dankbar, daß wir gemeinsam mit seiner Familie beten. Es war ein kleines Fest am Sterbebett. Ich habe dem Mann die Krankensalbung gespendet und plötzlich herrschte in diesem Krankenzimmer eine Atmosphäre der Gegenwart Gottes. Da mußte man niemandem etwas erklären. Alle Anwesenden haben das ehrfürchtig zur Kenntnis genommen. Es war erfahrbar, was hier geschehen war: ein Mensch gibt sich im Vertrauen auf Gott hin.

An solchen Beispielen kann man erfahren, wieviel Großes gerade in Situationen tiefsten Leids geschehen kann.

Silvio Crosina

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Nach meiner Krankenschwesternausbildung habe ich drei Monate bei Mutter Teresa in Kalkutta verbracht und war dort in dem Sterbehaus, wo jene aufgenommen werden, die kein Spital nimmt. Sie werden meist von den Schwestern auf der Straße aufgelesen. Bei Mutter Teresa bekommen sie Essen, Medikamente und vor allem wird ihnen Liebe geschenkt.

Durch meine Schwestermausbildung in Österreich war ich einfach gewöhnt, daß die Leute nach Rentabilität gepflegt werden. Alles, was medizinisch noch einen Sinn hat, wird gemacht. Sobald aber Ärzte und Schwestern an den Grenzen der Medizin anstehen, so ist das allen irgendwie peinlich. Das wird natürlich nie ausgesprochen, aber das bekommt jeder mit.

Dort in Indien wurden aber auch Menschen gepflegt, bei denen die medizinische Betreuung sinnlos erschien, etwa weil der Betroffene ohnedies bald sterben würde. Den Schwestern der Mutter Teresa steht es aber dafür, jeden zu umsorgen. Sie möchten, daß er wenigstens einmal im Leben viel Liebe erfahren kann, sehen immer nur den einzelnen Menschen. Dieser einzelne Mensch soll erkennen können, daß der Gott der Christen einer ist, der alle Menschen besonders liebt.

Für mich hat sich seither die Einstellung zur Krankenpflege sehr geändert. Die Einstellung der Schwestern in Indien wird mir ein Vorbild bleiben: Jeder Patient wird von ihnen als Heiliger betrachtet.

Und dieses Wissen hilft mir eigentlich immer, vor allem wenn jemand stirbt. Ich erinnere mich da an einen bestimmten Fall: Eine fast 90jährige Frau wurde nach einem Schlaganfall noch intubiert. Sie starb aber trotzdem. Der behandelnde Arzt ist daneben gestanden und hatte Tränen in den Augen, weil er meinte, versagt zu haben. Bei uns wird eben Ärzten und Schwestern unbewußt eingetrichtert, daß wir nur dann etwas leisten, wenn wir einen Menschen gesund machen. Stirbt ein Mensch, so ist das ein Versagen.

Seit meinem Aufenthalt in Kalkutta ist der Tod für mich nicht so bedrückend, weil ich ganz sicher bin, daß man auch während der Krankheit die Liebe Jesu spüren und in besonderem Maße auch weitergeben kann.

Ich habe tiefgläubige Patienten erlebt, die so eine Fröhlichkeit und so eine Freude ausgestrahlt haben, daß sich das auf das ganze Krankenzimmer ausgewirkt hat und sie eine Hilfe für andere Patienten waren.

Und dazu kann auch ich als Krankenschwester beitragen, einfach dadurch, daß ich versuche, den Patienten Frieden mitzugeben, indem ich ihre Hand halte, sie manchmal auch in die Arme nehme, wenn ich den Eindruck habe, daß sie das brauchen.

Wenn man mit den Patienten noch reden kann, dann sage ich ihnen auch, daß ich für sie bete, und versuche auch, ihnen die Angst zu nehmen.

Wenn ich im Nachtdienst sehe, daß es jemandem sehr schlecht geht, mache ich ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Es ist ganz verblüffend, daß sehr viele Patienten mit einem Lächeln reagieren. Vielen alten Menschen ist diese Geste sehr wichtig.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie man den schweren Beruf der Krankenpflege ohne Glauben bewältigen kann. Jede Krankenschwester wäre sicher eine noch bessere Schwester, wenn sie an Gott glaubte. Es wird jetzt viel von psychologischer Ausbildung gesprochen. Aber das ist kein Ersatz für fehlenden Glauben. Nur er gibt einem die Kraft, die man in diesem Beruf braucht.

Ich erinnere mich da auch an die Schwestern der Mutter Teresa. Vor der Messe oder der Anbetung waren sie oft ganz erschöpft, verbraucht. Nach dem Gebet waren sie wieder fröhlich und wirkten ganz frisch. Für sie war das Gebet wie für andere die tägliche Nahrung,

Maria Engleitner

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Klare Stellungnahmen unserer Bischöfe:

Eine Gesellschaft, die den absoluten Schutz des menschlichen Lebens relativiert habe, darf sich nicht wundern, wenn als Folge dieser Bestrebungen der Wert des Lebens überhaupt in Frage gestellt wird", unterstrich Bischof Dr. Kostelecky. Der Bischof erinnerte in diesem Zusammenhang an die Zulassung der Abtreibung, während es jetzt um Experimente mit Embryos gehe. Dadurch sei eine "Mentalität gezüchtet” worden, die "jetzt richtig zum Tragen kommt und vielen erst bewußt wird”.

Weihbischof Dr. Krätzl übte Kritik daran, Begriffe wie "Tötung aus Mitleid” oder "Euthanasie" als "human" hinzustellen. Niemand habe das Recht, Leben gewaltsam abzukürzen - auch dann nicht, wenn der Betroffene darum bittet. Schon im nächsten Augenblick einer Besserung kann der Lebenswille zurückkehren.

Als "dringenden Mahnruf für uns alle, auch für die Kirche" hat Bischof Dr. Küng die Patientenmorde bezeichnet. Man müße "mit aller Klarheit und Entschiedenheit für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen eintreten".

Als einen "Alarmschrei des verlorenen Gottes" hat Bischof Weber die Mordserie bezeichnet. So wichtig es sei, über Fragen der Struktur zu reden, so dürfe man sich "nicht an der eigentlichen Wahrheit vorbeidrücken”.

Diese Wahrheit sei, daß jeder Mensch aus der Liebe Gottes komme und daher ein "unantastbares Lebensrecht" und eine "ewige Würde” habe.

Heute sei man zunehmend erschüttert über die "Selbstherrlichkeit des Menschen, die einmal in der eigenmächtigen Tötung des ungeborenen Kindes begann und nun nach dem Menschen an seinem Lebensende greift", erklärte Weihbischof Dr. Krenn.

Wer zur Wahrung der Würde des Lebens "erst nach Lainz die Wache angetreten hat", sei "spät dran, zu spät", sagte Bischof Dr. Stecher. "Die Beseitigung des menschlichen Lebens in seinen hilflosen Phasen ist in Österreich durchaus gesellschaftsfähig geworden". Der Bischof kritisierte, daß manche besonders eifrige und empörte Akteure auf dem Fernsehschirm der letzten Woche "personenidentisch” seien mit jenen, "die auf denselben Fernsehschirmen die Tötung Ungeborener als besonderes Zeichen der Aufgeklärtheit und Liberalität gefeiert haben”.

Die Patientenmorde sollten nach den Worten Bischof Dr. Kapellari ein Anlaß sein, um nachzudenken, wie man aufgetretene Risse im Damm zum Schutz des Lebens wieder schließen könnte. Kritik übt der Bischof vor allem an der Sterbehilfe-Diskussion der letzten Jahre. Wer heute die Tötung auf Verlangen freigeben will, der öffne einen Damm, der auch jene schützt, die fürchten, von der Gesellschaft eines Tages sanft, aber deutlich zum Selbstmord gedrängt zu werden”.

Das "besonders Grauenvolle" an der Mordserie in dem Wiener Spital ist nach Meinung Kardinal Dr. Königs, daß offenbar keineswegs nur "Mitleid" im Spiel gewesen sei, sondern "daß vier Pflegerinnen ihnen “lästige” und "unliebsame” Patienten zu Dutzenden mit zum Teil grausamen Methoden zu Tode brachten”.

"Was hier geschah, ist wahrhaft monströs und zeigt, wessen der Mensch fähig sein kann, wenn er - wie es im Bericht der Bibel vom Sündenfall heißt - sein will wie Gott”, bemerkte der Kardinal.

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