VISION 20006/1989
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Ein Kind ohne Grenzen

Artikel drucken (Heidi Huber)

Patrick ist fünf Jahre alt. Er ist ein Einzelkind, distanzlos, frech, kennt keine Grenzen, tut nur Verbotenes. Seine Mutter ist verzweifelt und ratlos. Sie braucht Hilfe. Patrick auch. “Wir haben an Sie gedacht, Frau Huber, ob sie Patrick nicht nehmen könnten.”

Er soll zu mir in die Therapie kommen. Kein einfacher Fall. Als Mensch und als Therapeut bin ich nicht gerade ermutigt, mit diesem Kind zu arbeiten; aber als Christ weiß ich, was ich jetzt zu tun habe.

Ich bereite mich vor: nicht methodisch-theoretisch. Ich denke an Patrick, stelle mir vor, wie das ist: ein Kind ohne Grenzen. Ich bete für ihn und für mich um eine gute erste Stunde. Und langsam beginne ich, Patrick zu mögen, bevor ich ihn gesehen hatte.

Jetzt steht er vor mir: blaß, verschlossen, unruhig, und streift mich mit einern müden “erwachsenen” Blick.

Ich schaue Patrick an, begrüße ihn und denke mir: ich mag Dich. Er geht mit mir ins Therapiezimmer. Er gibt sich stark: “Mein Hund würde Dich in den Fuß beißen, wenn er hier wäre”, meint Patrick. “Ja wahrscheinlich,” stimme ich ihm zu, wende aber ein: “Wenn es mir nicht gelingen würde, mit ihm Freundschaft zu schließen.” Ob es mir mit Patrick gelingen wird?

“Patrick, zieh bitte die Turnpatschen an!” Die erste Forderung. Er reagiert erwartungsgemäß mit einem: “Nein!” Ich lasse nicht locker: “Komm, dann kannst Du mitspielen.” Und wieder: “Nein, nein, ich will nicht”. Ich bleibe dabei. Patrick zieht stärkere Register: Er weint und schreit, trommelt gegen die Türe, droht, daß er nie wiederkommen wird... und das geht so eine Viertelstunde lang.

Meine Forderung bleibt. Ich rede in Gedanken mit Patrick: Ich mag Dich (das war ehrlich durch die Vorbereitung im Gebet). Es hilft Dir nicht, wenn Du jetzt fortgehst. Es hilft Dir auch nicht, wenn ich jetzt nachgebe. Ich weiß, das ist schwer für Dich (Für mich auch)! Ich glaube daran, daß Du es schaffst. Und ich rede mit dem lieben Gott: Bitte laß das bei Patrick “ankommen”, trotz seiner Wut. Dann plötzlich: totaler Stimmungsumschwung. Patrick ist wie ausgewechselt. Er will heute nicht mitspielen, erklärt er, sondern nur zuhören. Er erzählt vom Kindergarten, nennt Lieder, die er gerne hören möchte und sagt am Ende: “Nächstes Mal werde ich mitspielen - wenn ich schon ein bißchen größer bin. Aber eigentlich hab ich Angst vor dem Größerwerden...”

Wir haben die erste Hürde gut geschafft: Patrick und ich - und der liebe Gott.

Patrick kommt jetzt gerne zu mir in die Therapiestunden, und zieht sogar freiwillig seine Turmpatschen an. Nur manchmal “droht” er noch: “Heute bleib ich aber nur fünf Minuten! Wirklich!” - “Ist gut, Patrick,” sage ich. Ja, du bist frei, denke ich. Und es ist ein Wunder und letztlich auch ein Geschenk, daß du diese Beziehung zu mir angenommen hast als ein “Lernangebot”. Das hätte nicht so kommen müssen! Patrick bleibt länger als fünf Minuten, das sage ich ihm natürlich nicht.

Von ihm angeregt, gestalten wir miteinander Geschichten und Lieder. Immer kommt die Hexe vor, ein böser Zauberer, der Wolf - und alle Tiere haben einen riesengroßen Hunger.

Einmal baut sich Patrick mit einigen Instrumenten einen “Käfig” und spielt einen kleinen Elefanten im Zoo. Ich soll der Zoowärter sein. Untertags kommen viele Leute in den Zoo, bewundern die Tiere, es wird gespielt, gegessen oder gefaulenzt, wann es der Zoowärter sagt. In der Nacht aber bricht der kleine Elefant aus, der Zoowärter hat viel Mühe, ihn wieder einzufangen, ist dann sehr streng mit ihm, bis sie sich wieder versöhnen.

Dann wird der kleine Elefant sogar zum großen Helfer des Zoowärters. “Was ist denn schon wieder mit den giftigen Schlangen los? Eben haben wir sie doch erst eingefangen!”, sagt der Zoowärter. “Die Türe vom Schlangenhaus war nicht ganz zu!”, hat der kleine Elefant beobachtet. “Wenn ich dich nicht hätte, kleiner Elefant!”

Patrick baut sich selbst eine Begrenzung, einen “Käfig”, ein Haus, einen Raum, wo er geschützt ist. Und er weiß, es gibt Dinge, die gefährlich sind, die man besser unter Kontrolle hält. Diese Kontrolle, diese Grenzziehung erfährt Patrick durch den Zoowärter und übernimmt sie dann selbst, indem er dem Zoowärter hilft.

Seinem “Schlimmsein” wurde eine Grenze gesetzt. Das ist zuerst unangenehm, aber dann angenehm, weil nachher alles wieder gut ist. Das hat ihm die Sicherheit gegeben, so angenommen zu sein, wie er ist. Und er konnte seine zuerst aggressiv-feindselige und stets mißtrauische Haltung zugunsten einer kooperativen Spielhaltung aufgeben. Oder anders ausgedrückt: Patrick hat ein christliches Modell im Umgang mit Schuld “gelernt”.

Viel wird nun an Patrick’s Mutter liegen, inwieweit sie diesen Lernprozess nachvollziehen kann. Rein psychologisch gesehen ist das sehr schwer. Ich persönlich glaube an Wunder.

Heidi Huber

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"Ein Kind, das keine Grenzen erfährt, hat grenzenlose Angst. Es erlebt: Niemand ist stärker als ich. Es hat niemanden, bei dem es Schutz suchen kann, wenn es sich selber einmal schwach fühlt. Es muß deshalb immer “stark” spielen.

Ein Kind, das keine Grenzen erfährt, ist aber auch unersättlich, will alles haben, weil es das Notwendige nicht hat: Geborgenheit und Sicherheit."

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