VISION 20006/1989
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Gorbatschow und das Gebet

Artikel drucken (Marcel Clément)

Gorbatschow wird im Westen als die große Persönlichkeit der 80er Jahre angesehen. Die erfreuliche Öffnung im Osten wird als sein Werk gefeiert. Übersehen wird der seit Jahrzehnten stattfindende geistige Kampf, der vor allem von Christen (nicht nur in Polen) getragen war und der jetzt Früchte trägt. Dieses Ringen ist keineswegs zu Ende. Es tritt nur in eine neue Phase. Denn ein wirklich neues Europa wird nicht allein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltet werden können.

Am 28. Oktober 1956 wurde in einem offiziellen Kommuniqué der Volksrepublik Polen die Freilassung des seit drei Jahren inhaftierten Kardinal Wyszynski bekanntgemacht. Vom 8. Mai bis zum 17. Juni hielt sich der Kardinal dann in Rom auf, wo er mehrmals zu längeren Aussprachen mit Papst Pius XII. zusammenkam. Am Ende seines Aufenthalts erklärte er, daß der polnische Episkopat und das polnische Volk mit einem großen Werk der geistigen Erneuerung beginnen würden.

Es sollte eine Novene von neun Jahren zur Vorbereitung der Tausend-Jahre-Feier Polens im Jahr 1966 beginnen.

Ein Gesamtplan wurde für ganz Polen entworfen. Neun Jahre hindurch wurden jeden Sonntag die Predigten in jeder Pfarre des Landes einem bestimmten Thema gewidmet. Die Feste der Gottesmutter wurden ganz besonders vorbereitet. Eine besondere Marienandacht wurde jeden ersten Samstag des Monats gefeiert. Zahllose marianische Kongresse wurden auf Pfarr-und überpfarrlicher Ebene abgehalten. Die Einkehrtage für Priester vervielfältigten sich.

Und das geistige Klima in Polen veränderte sich von Grund auf in diesen neun Jahren.

Als dieses Gebet des polnischen Volkes 1966 seinen Abschluß fand, spürten viele einen heimlichen Schmerz. Anscheinend hatte sich nichts verändert. Die Menschenrechte wurden nicht besser geachtet.

Das Regime hatte seinen Kampf und seine Verfolgungen nicht aufgegeben. Das verhindert aber nicht die feierliche Weihe des ganzen polnischen Volkes zum Abschluß der Milleniumsfeiern am 3. Mai 1966 in Jasna Góra. Alle polnischen Bischöfe - unter ihnen Karol Wojtyla - unterzeichnen einen Text, in dem es unter anderem heißt: “Wir glauben mit unserer ganzen Seele, daß diese Weihe, die dieses Jahrtausend beschließt, nicht weniger entscheidend für unsere Zukunft ist als die Taufe von Mieszko vor 1000 Jahren.”

Und diese Zukunft sollte die dem dialektischen Materialismus unterworfenen Völker von der Tyrannei des Atheismus befreien...

Am 18. Oktober 1978 wird zur großen Überraschung der gesamten Welt ein Slawe, ein aus dem Osten kommender Pole zum Stellvertreter Christi gewählt.

Das “Geheimnis” Karol Wojtyla nimmt seinen Lauf...

Erster Besuch des Heiligen Vaters in Polen im Juni 1979 und das Aufstrahlen der Bewegung Solidarnosc; Tod Kardinal Wyszynskis am 28. Mai 1981, Machtübernahme durch Jaruzelski und Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1982... Dann die zweite (schmerzliche) Reise im Juni 1983.

Es wird offenkundig, daß die große Novene das polnische Volk nicht nur zum Gebet, sondern auch zum Leiden bereitet hatte...

Am 19. Oktober 1984 wird der Priester Popieluszko ermordet. 1987 empfängt der Papst Jaruzelski in Rom und neuerlich verändert sich die Situation. Johannes Paul II ist im Juni 1987 wieder in Polen. 1988 sprengt die Geldentwertung alle Rahmen. General Jaruzelski muß das Scheitern seiner Lohn- und Preispolitik eingestehen. Von da an muß er nachgeben. Die Gewaltanwendung ist gescheitert und der Zwang. Das Elend macht sich breit.

Das Ende des Tunnels ist fast erreicht: Ein Katholik, Tadeusz Mazowiecki, wird Ministerpräsident.

Dieser Rückblick ist notwendig. Er zeigt, daß die friedvolle Stärke, die das polnische Volk und seine Speerspitze Solidarnosc bewiesen haben, nicht erst seit 1985, dem Jahr der Ankunft Gorbatschows, am Werke ist. Die Schlußfolgerung drängt sich auf. Es ist die Einheit eines Episkopats, es sind neun Jahre nationaler Anstrengung, ein geistiger, bürgerlicher und gewerkschaftlicher Kampf mit leeren Händen, die bewirkt haben, daß Polen das erste Land ist, das friedlich das kommunistische Joch abzustreifen begann.

Um das Erdbeben zu begreifen, das sich in den Oststaaten verbreitet und das viele überrascht, darf man selbstverständlich die Politik des Herrn im Kreml nicht bagatellisieren. Man muß sich aber ebenso bewußt machen, daß ein Land anfangen mußte, mit hinreichender Einheit sich der sowjetischen Herrschaft zumindest teilweise zu entziehen, damit die Neuordnung zumindest teilweise von den Händen der Kommunisten in die der Christen übergehen kann.

Marcel Clément (Auszug aus L’Homme Nouveau v. 19.11.1989)

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