VISION 20006/1989
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Bleibt wachsam

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Frage: Wie steht es mit den Gotteshäusern in der Sowjetunion?

Valerij Senderow: Früher hatte jedes größere Dorf seine Kirche. Jetzt stehen im allgemeinen nur noch in Provinzstädten Kirchen. Es gibt Bezirke, wo kein einziges Gotteshaus steht. Durch das Gedränge in den wenigen Kirchen kommt es zu Unfällen, auch zu Todesfällen.

Frage: Wieviele Kirchen wurden in letzter Zeit geöffnet?

Senderow: In der Westunkraine waren es einige hundert russisch-orthodoxe Kirchen, nicht um den Leuten mehr Freiheit zu geben, sondern um dadurch die uniierte Kirche zu bekämpfen. Auch in Litauen hat man einige orthodoxe Kirchen genehmigt, obwohl dort keine Notwendigkeit bestand. Doch in mehrheitlich russisch-orthodoxen Gebieten finden die Gläubigen mit ihren Bitten um Eröffnung von Gotteshäusern kein Gehör.

Im Moskauer Auslandsjournal der orthodoxen Kirche kann man schöne Photos von wiedereröffneten Kirchen sehen. Die wenigen Zugeständnisse zeigt man gerne der Weltöffentlichkeit.

Frage: Warum geht die Öffnung von Kirchen und Klöstern so schleppend voran?

Senderow: Wegen der Angst, das Christentum könnte stärker als die kommunistische Partei werden. Der Staat will das Christentum für seine Ziele einspannen.

Frage: Warum aber haben die Gläubigen nun größere Freiheiten?

Senderow: Der Staat braucht die Kirche, um die Moral zu heben. Die offizielle Macht hält aber am Marxismus-Leninismus fest. Man will nicht zugeben, daß es mit dem Kommunismus aus ist.

Frage: Welche Chance hat die Religion in der Sowjetunion?

Senderow: Die Zeit arbeitet für die Religion und die Freiheit. Doch die Zeit liebt es nicht, sich passiv zu ihr zu verhalten.

Frage: Was denken Sie über die politische Zukunft hier?

Senderow: Gorbatschow versteht nicht, daß das kommunistische Imperium zugrunde geht. Der Kremi kann sich jetzt schon keine Aggression außerhalb der UdSSR mehr leisten. Eine starke Haltung des Westens kann es verhindern, daß die eigenen Völker in unserem Land bekämpft werden.

Frage: Was erwarten Sie sich sonst noch vom Westen?

Senderow: Die richtige Einschätzung unserer Lage. Bei den Verhandlungen darf es keine einseitigen Zugeständnisse geben. Für materielle Unterstützungen müssen auch Gegenleistungen geistiger Art ausgehandelt werden.

Valerij Senderow ist ein ehemaliger Mathematiklehrer, der wegen kritischer Artikel zwischen Juni 1982 und März 1988 in Gefängnissen und Lagern inhaftiert gewesen ist. Mit ihm sprach P. Jakob Förg, Mitarbeiter von Christian Solidarity International, der sich zwei Wochen in der Sowjetunion aufgehalten hat (Auszug aus Wiener Kirchenzeitung 50/89).

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