VISION 20006/1989
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Mit neuen Augen aus Polen zurück

Artikel drucken (Joseph Doblhoff)

Fünf Tage habe ich Ende November in Polen verbracht und bei einer Bekannten unserer Familie gewohnt. Sie erteilt rund 400 Kindern ihrer Pfarre Katechismusunterricht und verdient dabei im Monat umgerechnet 130 Schilling. Sie überlebt im Grunde genommen nur, weil sie mit anderen teilt, alles, was sie hat. Unsere Mahlzeiten waren daher einfach: morgens ein Stück Brot mit wenig Butter, mittags eine einfach warme Mahlzeit und abends wieder Brot.

Ich habe mich zwar in diesen fünf Tagen nicht wirklich auf diese Einfachheit umgestellt, aber immerhin bin ich etwas sensibler geworden, sensibler auch für das, was bei den derzeitigen Ereignissen in Europa mitschwingt.

Wie aufregend und bewegend sind die neuesten Entwicklungen in Europa, wie froh können wir wir doch täglich sein bei dem Gedanken, daß die Welt möglicherweise eine der schwierigsten Zeiten der Verwirrung überstanden haben könnte! Unbeschreibliche Freude über das mögliche Ende von 40 Jahren Verfolgung, Knechtung und menschenunwürdiger Lebensumstände habe ich erlebt. Und doch vergesse ich die Sorge einiger polnischer EItern nicht. Sie haben Angst vor einer Begegnung mit dem Westen. Ihre Kinder könnten nicht genügend Zeit haben, sich auf diese Konfrontation, die zu einem radikalen Streben nach materiellem und geistigem Konsum verführt, vorzubereiten.

Während des Rückfluges aus Polen hat mich ein Gedanke nicht verlassen: Wir dürfen den Menschen in dieser Aufbruchssituation nicht die Wege versperren. Sicher müssen wir mit materieller Hilfe die derzeitige Not lindern und ihnen damit ein menschwürdiges Leben ermöglichen. Aber wir müssen uns vor allem selbst einem Veränderungs-, ja einem Ermeuerungsprozeß aussetzen. Und das betrifft vor allem die Selbverständlichkeit, mit der wir unsere materiellen Wünsche befriedigen. Welche Diskrepanz zur Not, die etwa in Polen in nächster Zeit sicher noch ärger werden wird.

Haben wir im Westen überhaupt schon begriffen, wie sehr diese Begegnung mit Menschen, die viele Jahre hindurch Not gelitten haben, dafür aber innerlich viel stärker, gefestigter und reifer sind als wir, eigentlich eine echte, vielleicht sogar die letzte Chance der Emeuerung ist?

Wir dürfen diesen einmaligen Augenblick nicht vorbeigehen lassen und uns dem Pragmatismus, den die Politiker in Ost und West praktizieren, verschreiben. Ich habe viele Menschen in Polen gefragt, was wir denn hier im Westen tun sollten, um ihnen wirklich zu helfen. Die Antwort war oft die gleiche: Emeuert, stärkt eure Familien im Westen, gebt eurer Jugend eine geistige Heimat!

Joseph Doblhoff

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