VISION 20002/1989
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Reden wir mehr über Gott!

Artikel drucken Kardinal Joachim Meisner in einem Interview:

Ein Christentum, dem nicht mehr widersprochen wird, hat seine Existenzberechtigung verloren. Wir müssen bloß dafür sorgen, daß uns der Widerspruch zu unrecht trifft. Es gibt einen Widerspruch, der uns zurecht trifft: Wenn unser Handeln und unsere Worte nicht übereinstimmen...

Die uns aufgetragene eigentliche Last ist, daß wir das Erbarmen Gottes verkünden müssen und dabei unser erbarmungsioses eigenes Herz schlagen hören. Das ist die große Last. Wir dürfen dann nicht unser Konzept zusammenklappen und sagen, ich gehe weg. Denn, wenn ich nur das verkünde, was ich kann, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Der Apostel Paulus sagte schon: Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde.

Was wir in der Kirche zur Zeit wirklich schlecht machen, ist, daß wir dauemd über uns reden und nicht über Gott. Wir drehen uns dauemd um uns selbst und nicht mehr um den Gott, der uns trägt, der uns liebt und der für uns sorgt. Dabei fällt mir ein, was der Herr zu den weinenden Frauen von Jerusalem am Kreuzweg sagte: Weint nicht über mich, sondern weint über euch und eure Kinder.

In neun Jahren als Bischof von Berlin habe ich... festgetstellt, wie sehr sich beide gesellschaftliche Systeme von der Wurzel her ähneln. Es gibt eine gewisse Grundbefindlichkeit im Osten wie im Westen. Ich will das einmal mit solchen Wörtern wie Säkularismus, Atheismus, Hedonismus bezeichnen.... Ich glaube, daß die Christen in der östlichen Hemisphäre vielleicht ein wenig aufgeschlossener sind als hier, und zwar, weil sie beispielsweise mit den Medien viel mehr in Abstinenz leben.

Ich will Ihnen erzählen, was ich als Bischof von Berlin bei den Pfarrbesuchen den Pastor am Abend zu fragen pflegte. Herr Pastor, ich habe eine Frage, die ich morgen beantwortet wissen möchte: Können Sie mir drei Namen von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen nennen, von denen sie glauben, sie seien die tragenden Säulen Ihrer Gemeinde von morgen? Und dann stelle ich Ihnen eine zweite Frage, die ich Ihnen aber heute noch nicht sage...

Diese lautete dann immer: Was tun sie denn für die, wieviel Kraft und Zeit investieren sie denn in die drei jungen Leute, von denen sie meinen, sie werden die tragenden Säulen im Jahr 2000 sein? Müssen wir immer nur sagen, es lohnt sich nicht, weil es bloß drei sind? Sehen Sie, wenn eine Zelle verletzt ist, ist sie regenerierbar, solange der Zellkem gesund bleibt. Wir brauchen solche Zellkerne, dann können sich auch verletzte Zellen regenerieren.

Die Welt wird evangelisiert durch Menschen, die nicht fragen, was nützt mir das, was verdiene ich dabei, was habe ich davon, sondem die einfach mit Paulus sagen, die Liebe Christi drängt mich,

Wir Christen sind oft in der Minderheit, und Minderheiten stehen immer in der Gefahr, Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen. Ich stelle dem die Ausrichtung auf ein demütiges Selbstbewußtsein entgegen - demütig und selbstbewußt -, ein Siegesbewußtsein des Glaubens. Nicht, daß wir besser wären als andere Menschen, aber unser Gott ist es.

Der Papst hat die Pflicht, die ganze Wahrheit zu verkünden. Er sagt: Wenn ich die Wahrheit auf die "Schuhgröße" des Menschen reduziere, dann tue ich dem Menschen unrecht. Der Mensch kommt nur über sich hinaus, wenn er auf Höheres ansetzt als auf sich selbst. Der Hochspringer muß höher ansetzen als er ist, sonst überspringt er nicht die Latte.

Gott ist nirgends so sehr Gott als dort, wo er schenkt, wo Menschen sind, die ihm seine Gaben abnehmen. Die höchste Gabe ist die Vergebung. Die höchste Gnade ist Begnadigung. Jedesmal, wenn der verlorene Sohn heimkommt, wird im Himmel ein Fest gefeiert. Vielleicht verhungert man im Himmel, weil es keine Feste mehr gibt, weil es keine verlorenen Söhne und Töchter mehr gibt, die heimkehren.

(Rheinischer Merkur 15/1989)

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