VISION 20002/1990
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Aber das kann einfach nur ich

Artikel drucken (Ingeborg Sickinger)

Beruf und Karriere verleihen heute Ansehen. Für viele Frauen ein Grund, nicht bei den Kindern zu bleiben. Claudia hat anders entschieden.

Vor drei Wochen kam der Brief: Claudia kann mit dem Turnus beginnen. Vor drei Jahren hat sie ihr Medizinstudium abgeschlos­sen, hat geheiratet - Martin ist ebenfalls Mediziner - und den kleinen Augustin zur Welt ge­bracht. Und nun kam die von je­dem Studenten heiß ersehnte Nachricht.

Der Brief forderte eine Antwort: Sollte sie den Turnus antreten und dabei riskieren, daß ihr Kind, ihr Mann in den nächsten drei Jahren zu kurz kommen werden? Sollte sie das Angebot abschla­gen und damit bewußt in Kauf nehmen, ihren Beruf nie ausüben zu können? Wahrlich keine leichte Entscheidung.

"Für Martin und mich war das im Grunde immer schon klar", er­zählt Claudia. Den eineinhalb­jährigen Augustin in eine Kin­derkrippe zu geben, ihn von fremden Menschen erziehen zu lassen - diese Vorstellung schied für beide von vornherein aus. Als nun aber das Tumusangebot konkret wurde, boten sich ­Mar­tins Eltern plötzlich an, das Kind für diese drei Jahre zu sich zu nehmen. "Sie sind rührend liebe Großeltern und würden sicher­lich alles für Augustin tun", weiß Claudia. Sie argumentierten, es wären ja nur drei Jahre! "An dieser Stelle sah ich ganz klar: diese drei Jahre wären ja fast die ganze Kindheit von Augustin", erzählt Claudia. Sie faßt ihre Überlegungen folgendermaßen zusammen: "Sicher wäre ich eine gute Turnusärztin geworden - nun, das sind viele andere auch. Aber eine gute Mutter für Augustin zu sein - das kann nur ich." Damit war entschieden: Das Wichtigste ist jetzt, für ihren Augustin da zu sein. "Das soll aber nicht wie ein großes Opfer klingen," betont Claudia, "denn innerlich überwiegt ganz einfach die Freude, die Erfüllung. Und ich habe auch gespürt, daß das eine Aufgabe ist, die der liebe Gott mir jetzt zugedacht hat." Ein weiterer Gedankengang war für Claudia entscheidend: sie ist ja nicht nur Mutter, sondern auch Ehefrau. Einmal haben sie und Martin zugleich im Krankenhaus gearbeitet. Das war sehr schön, aber auch eine große Belastung. "Zudem hatten wir verschiedene Dienstpläne, und die gemeinsa­men Stunden waren gezählt", erinnert sie sich. Zeit für private Dinge, für ein gutes Gespräch gab es nicht mehr. Jahrelang so zu leben und zudem das Kind bei den Großeltern zu wissen - dieser Preis ist ihnen einfach zu hoch.

Im Rückblick auf ihr Studium erzählt sie: "Ich bin dankbar für die Ausbildung, die mir jetzt in allen Bereichen zugute kommt. Ich weiß über den Menschen und seine Krankheiten einfach Be­scheid und kann mich gegen un­sinnige Behandlungsmethoden wehren." Außerdem kann sie mit Martin einzelne Fälle durchgehen, ihm einen Rat geben. Für Claudia war also ihr Studium trotz ihrer jetzigen Entschei­dung, beim Kind zu bleiben, wirklich sinnvoll.

Wäre es für sie vorstell­bar gewesen, daß Mar­tin beim Kind zu Hau­se bleibt? "Das schied für uns aus mehreren Gründen aus", führt Claudia an. "Erstens bin ich als Mutter die ersten Jahre die wichtigste Person für mein Kind. Das heißt nicht, daß der Vater nur eine Randstellung ein­nimmt. Ganz im Gegenteil muß er schon von Anfang an eine Be­ziehung zum Kind aufbauen. Aber das Stillen, das Halten, meine Stimme, meine Nähe - auf alles das hat Augustin schon ganz früh reagiert; da bin ich einfach unersetzlich." Zudem hat Claudia beobachtet, daß ihr als Frau vieles besser gelingt, mehr Spaß macht als Martin. "Damit meine ich nicht das Windelwickeln", stellt sie gleich klar, "denn das kann Martin genauso gut. Ich denke daran, wie ich gerne etwas in der Wohnung - auch wenn sie klein ist - gestalte oder mich um andere Menschen kümmere. Das kann ich einfach besser." Schließlich wünscht sie sichauch, daß ihr Kind mit Geschwi­stern aufwachsen kann. "Meine Kinder sollen lernen", beschreibt Claudia, "daß nicht alles für sie alleine da ist. Solche Menschen werden wir in Zukunft brauchen. Für mich ist Kindererziehung eine Antwort auf viele Probleme unserer Zeit."

"Ich habe bemerkt, wie gut es mir getan hat," betont sie, "daß auch Martin voll und ganz hinter die­ser Entscheidung steht. Das hat mir sehr das Rückgrat gestärkt, vor allem in Situationen, als von Freunden und Bekannten selbst­verständlich angenommen wur­de, daß ich den Turnus beginne." Neben dem Stichwort Selbstver­wirklichung wurde angeführt, man müsse sich doch auch für den Fall absichern, daß die Ehe schiefgehen könnte. "Meine Ent­scheidung gegen den Abschluß der Ausbildung", formuliert Claudia, " ist da zugleich ein "Ja" zu Martin und zum Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft". Viele Gespräche, viele Diskus­sionen hat sie geführt, über die sie erzählt: "Ich habe heute die Freiheit, entweder bei meinem Kind zu bleiben oder in den Be­ruf zu gehen. Ich habe bemerkt, daß das für viele aber nur eine theoretische Freiheit ist, weil in der Praxis der Druck zum Beruf, zum Geldverdienen und zum Konsum überwiegt. Allzu plura­listisch ist unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht wieder nicht. Die Entscheidungsfreiheit wollte ich mir aber nicht nehmen lassen." Claudia möchte auch andere ermutigen, sich wirklich zu über­legen, was für sie wichtig ist, und sich gegen den Druck der Zeit zu stellen. "Wenn alle im Beruf aufgehen", formuliert sie, "und keiner mehr Zeit hätte für den anderen - das wäre eine ziemlich unmenschliche Welt."

Ingeborg Sickinger

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