Daher habe ich das kürzlich erschienene Buch “Mit dem Herzen sehen", das ein Gespräch des Journalisten Stefan Rehder mit dem Kölner Erzbischof wiedergibt, mit großer Erwartung zur Hand genommen - und bin nicht enttäuscht worden. Es bietet all die genannten Vorzüge, überdies eröffnet es dem Leser aber auch einen Blick in die Geschichte des Kardinals, und es gibt Zeugnis von dessen tiefen Glauben. Bemerkenswert ist auch seine Fähigkeit, Diesseitiges und Jenseitiges zusammenzuschauen, den Glauben im Leben zu verankern.
Berührend ist die Schilderung seiner materiell armen, aber an familiärer Geborgenheit reichen Kindheit und Jugend - und das, obwohl die nach dem Krieg vaterlose Familie flüchten und sich in Ostdeutschland niederlassen mußte. Bemerkenswert ist die Klarheit, mit der er seine Berufung, die eigentlich nie wirklich angefochten gewesen sein dürfte, erkennt. Eindrucksvoll seine Bereitschaft, sich in Dienst nehmen zu lassen, besonders als er - gegen seine eigenen Wünsche - 1988 zum Erzbischof von Köln ernannt wird.
Es ist schwer, einen treffenden Überblick über die Vielfalt der angeschnittenen Themen zu geben. Darum möchte ich aus der Fülle einige Aussagen herausgreifen, die mich beeindruckt haben.
Da war etwa der Satz: “Wenn einer meiner Priester seine Berufung verliert, dann ist das immer auch eine Anfrage an mich: habe ich für diesen Priester zu wenig gebetet, zu wenig geopfert, mich zu wenig geheiligt?" Nicht nur die Demut, die aus diesen Worten spürbar wird, macht betroffen, vielmehr stellt sie jeden von uns vor seine Verantwortung für seine Mitmenschen. Dieselbe Frage könnte sich ja auch jedes Gemeindemitglied dieses Priesters stellen, dieselbe Frage auch jeder Vater und jede Großmutter, jeder Bruder und jede Lehrerin, wenn ein junger Mensch auf Abwege gerät.
Oder die Aussage: “Wer will noch nach Ausschwitz, nach Dachau, nach Buchenwald behaupten, daß der Mensch menschlich ist? Niemand. Nur Gott ist menschlich, ist ganz und gar Mensch geworden in Jesus Christus." Nur der Mensch gewordene Gott ist wirklich menschlich! So einfach ist das. Und was wird nicht alles über Menschlichkeit herumgefaselt! Wir stünden heute vor folgender Alternative, fährt der Kardinal fort: “entweder Bruder in Christus zu sein oder Genosse im Antichrist." Wievielen ist klar, vor welcher Alternative der Mensch im Grunde genommen steht?
Oder folgende Klarstellung: “In der Kirche sind die Lehrer des Glaubens in erster Linie nicht die Professoren, sondern die Pastoren, die Hirten. Ihnen ist das Lehramt anvertraut, nicht den Professoren.
Sonst hätte man nach menschlichem Ermessen im Anfang den Paulus zum ersten Papst machen müssen, denn er war theologisch gebildeter als Petrus. Aber vor der menschlichen Begabung steht in der Kirche Christi die göttliche Begnadung. Christus hat es eben anders gemacht."
Ich muß das Buch aus der Hand legen, um nicht weiter zu zitieren. Jedenfalls aber möchte ich es Ihnen, liebe Leser, sehr empfehlen. In relativ kurzen Antworten gegliedert ist es außerdem leicht lesbar. Und man kann es - als Nachtkastl-Lektüre - auch “stückerlweise" genießen.
Christof Gaspari
“Mit dem Herzen sehen - Chance und Auftrag der Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends" Joachim Kardinal Meisner im Gespräch mit Stefan Rehder, MM-Verlag, 230 Seiten.