VISION 20002/1990
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Wir erleben ein Wunder

Artikel drucken Vacav Havel begrüßt den Papst (Vaclav Havel)

Die neue Situation im Osten ist unserer schnellebigen Zeit schon längst zur Alltagsroutine geworden. Leider. Wir sollten uns immer wieder in Erinnerung rufen, welches Wunder da geschah.

Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist. Trotzdem wage ich zu sagen, daß ich in diesem Augenblick ein Wunder erlebe: Ein Mann, der noch vor 6 Monaten als Feind seines Staates verhaftet wurde, begrüßt heute als dessen Präsident den ersten Papst in der Geschichte der katholischen Kirche, der den Boden betrat, auf dem dieser Staat liegt.

Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist. Trotzdem wage ich zu sagen, daß ich heute Nachmittag ein Wunder erleben werde: Auf dem gleichen Platz, wo vor 5 Monaten - an dem Tage, an dem wir uns über die Heiligsprechung der Agnes von Böhmen freuten - über die Zukunft unseres Landes entschieden wurde, wird das Oberhaupt der katholischen Kirche die heilige Messe zelebrieren und wahrscheinlich unserer Heiligen für ihre Fürbitte bei dem danken, der in seinen Händen den geheimnsivollen Lauf aller Dinge hat.

Ich weiß nicht, ob ich weiß, was ein Wunder ist. Trotzdem wage ich zu sagen, daß ich in diesem Augenblick ein Wunder erlebe: In unser durch die Ideologie des Hasses verwüstetes Land kommt ein Bote der Liebe; in das durch das Regieren von Ungebildeten verwüstete Land kommt ein lebendiges Symbol der Bildung; in das Land, das bis vor kurzem durch die Idee der Konfrontation und der Verteilung der Welt vernichtet wurde, kommt ein Bote des Friedens, des Dialogs, der gegenseitigen Toleranz, Ehrfurcht und des liebenswürdigen Verständisses, der Verkündiger der brüderlichen Einheit in der Verschiedenheit.

Jahrzehnte lang wurde aus unserer Heimat der Geist ausgetrieben. Ich habe die Ehre, ein Zeuge des Augenblicks zu sein, in dem ihren Boden der Apostel des Geistes und der Seele küßt.

Vaclav Havel, Ansprache bei der Ankunft des Papstes auf dem Prager Flughafen

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