Es tun sich große Dinge in diesem Heiligen Jahr 2000: Am Zweiten Sonntag der Osterzeit, am 30. April, hat Papst Johannes Paul ll. die polnische Ordensfrau, Faustyna Kowalska (1905-1938), heiliggesprochen. Vielen ist sie bekannt.
Viele kennen ihr Bild vom Barmherzigen Jesus: der Auferstandene Christus, wie er seinen Jüngern im Abendmahlssaal erscheint, aus seinem Herzen strömen Blut und Wasser. Mit der Heiligsprechung Sr. Faustynas will die Kirche auch ihre Botschaft auf den Leuchter stellen: die Botschaft von der barmherzigen Liebe Gottes für die ganze Welt.
“Was werden die vor uns liegenden Jahre mit sich bringen?", fragt der Papst bei der Homilie zur Heiligsprechung. “Wie wird die Zukunft des Menschen hier auf Erden aussehen? Dies zu wissen ist uns nicht gegeben. Dennoch ist gewiß, das neben neuen Fortschritten auch schmerzliche Erfahrungen nicht ausbleiben werden. Doch das Licht der göttlichen Barmherzigkeit, das der Herr durch das Charisma von Schwester Faustyna der Welt gleichsam zurückgeben wollte, wird den Weg der Menschen des dritten Jahrtausends erleuchten."
Darum geht es der Kirche, wenn sie diese Frau im Heiligen Jahr zur Ehre der Altäre erhebt: mit ihr sollen auch ihre Botschaft und das Bild, das diese Botschaft uns vor Augen stellt, sichtbar über dem Portal ins neue Jahrtausend angebracht werden. Die Strahlen des göttlichen Herzens wollen wie zwei “Scheinwerfer" das 3. Jahrtausend überstrahlen. Darum wird in der Liturgie der Kirche von nun an der Zweite Sonntag in der Osterzeit in der ganzen Weltkirche den Namen “Barmherzigkeitssonntag" haben.
Wir sind auf Barmherzigkeit angewiesen
Die Frage beschäftigt mich als Seelsorger oft: Hat es je eine Generation gegeben, die so auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen war wie unsere? War je eine Zeit so irregeführt worden wie unsere?
Ich denke nicht an die Millionen Toten auf den Kriegsschauplätzen, in Konzentrationslagern, Gefangenenlagern als Folge gottloser Ideologien. Ich denke an die jetzt lebenden Menschen: an die Opfer so vieler trügerischer Versprechen. Kaum eine Zeit litt so viele Schmerzen wie unsere.
Auf kaum eine Zeit trifft so das Psalmwort zu: “Viele Schmerzen leidet, wer fremden Göttern folgt" (Ps 16,4). Die Götter, denen wir geglaubt haben, haben ihre Versprechen nicht gehalten. Dem schrankenlosen Lebensgenuß folgte der Ekel vor dem Leben und die Zerstörung der Umwelt. Die Freiheit von allen tieferen Bindungen hat uns in ausweglose Verstrickungen hineingeführt. Daß Gott tot sei, erwies sich als unser eigener Tod.
Für viele steht keine Hoffnung mehr am Ende eines langen und ausgebeuteten Lebens, kein offenes Fenster mehr in eine andere Welt. Wie recht Nietzsche bekommen hat: “Und ich sah eine große Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde. Eine Lehre erging, ein Glaube lief neben ihnen her: Alles ist leer, alles ist gleich, alles war! Und von allen Hügeln klang es wieder: Alles ist leer, alles ist gleich, alles war!"
Sein Erbarmen waltet über allen seinen Werken
In diese Traurigkeit und Leere hinein spricht Christus zu Sr. Faustyna die Worte:“Künde der Welt meine große, unergründliche Barmherzigkeit... Die Flammen meiner Barmherzigkeit verzehren mich: ich fühle mich gedrängt, sie über die Seelen auszugießen."
Die Offenbarungen der Heiligen Faustyna sind nichts Neues. Der Papst sagt ausdrücklich, der Herr habe durch Sr. Faustyna das Licht der göttlichen Barmherzigkeit “zurückgeben"(!) wollen. Es ist immer da gewesen, dieses Licht. Es leuchtet immer. Es leuchtet auf jeder Seite der Heiligen Schrift. Es leuchtet in jedem Menschenleben. Es leuchtet in der ganzen Menschheitsgeschichte. Aber es wird so oft nicht gesehen, nicht erkannt, es wird verdunkelt, es wird für eine Täuschung gehalten. Wie oft schon haben mir ernste gläubige Menschen nach einer Predigt über die Liebe Gottes gesagt: “Es ist schon recht, was Sie sagen. Aber Gott ist nicht nur Liebe und Barmherzigkeit, er ist auch die Gerechtigkeit."
Sie verstehen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Gegensatzbegriffe. Doch in der Bibel geht dieses Schwarzweißschema so nicht auf.
Dann kommt hinzu, daß heute viele ernste gläubige Menschen durch fragwürdige Prophezeiungen und Botschaften dem reinen Geist der biblischen Offenbarung entfremdet sind. Lassen Sie mich zu dieser Frage eine Kirchenlehrerin zitieren, die Heilige Theresia vom Kinde Jesu: “Ich weiß, daß Gott unendlich gerecht ist..., und diese Gerechtigkeit ist für mich Gegenstand meiner Freude und meines Vertrauens... Ich erhoffe von Gottes Gerechtigkeit so viel wie von seiner Barmherzigkeit. Weil er gerecht ist, ist er barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Güte. Er denkt daran, daß wir nur Staub sind. Wie ein Vater seine Kinder liebt, so erbarmt sich der Herr über uns."
Diese Worte stehen ganz im Lichte der prophetischen Offenbarung der Bibel, wenn Jesaia sagt: “Dein Gericht ist ein Licht für die Welt." (26,9)
Papst Johannes Paul ll. hat im Jahre 1980 eine ergreifende Enzyklika “Über das göttliche Erbarmen" geschrieben. Es ist bekannt, daß er diese Enzyklika im Blick auf die Botschaft der Heiligen Sr. Faustyna geschrieben hat. In dieser Enzyklika macht er eine Bemerkung, die unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Er schreibt: “Wenn einige Theologen sagen, daß das Erbarmen unter den Eigenschaften und Vollkommenheiten Gottes das Wichtigste ist, so liefern dafür die Bibel, die Tradition und das ganze Glaubensleben des Volkes Gottes ihre besondere Zeugnisse. Im Psalm 145 findet diese Feststellung ihren prägnanten Ausdruck: Sein Erbarmen waltet über all seinen Werken" (Ps 145,9). Oder wie es der Heilige Pfarrer Johannes Vianney einmal ausdrückte: “Die Barmherzigkeit Gottes ist wie ein Bach, der über die Ufer getreten ist."
Der Ruf nach dem Barmherzigen Samariter: Dem Menschen unserer Tage fällt es schwer, auf eine Kirche zu hören, auf Priester, auf Lehrer, auf Menschen, die mit hohen moralischen Anforderungen an ihn herantreten. Der Mensch von heute ist der Mann, der am Wegrand von Jerusalem nach Jericho liegt: Räuber haben ihn überfallen und ausgeplündert. Der Priester und Levit gehen an ihm vorüber: sie wissen ihm nicht zu helfen.
Der Barmherzige Samariter aber hält an. Er hat eine Medizin bei sich, die ihm aufhelfen wird: das Öl und den Wein der barmherzigen Liebe Gottes. Er weiß eine Herberge für ihn: Das geöffnete Herz des Erlösers. So kann der Erschlagene und Ausgebeutete wieder leben.
Ich erinnere mich an einen jungen Mann: er wurde von zu Hause weggeschickt. Er hatte Hausverbot. Die Eltern waren streng-katholische Christen. Für sie war ihr Sohn ein Schandfleck. Er war tatsächlich knietief in sündige, korrupte Geschäfte verwickelt.
Nach wenigen Jahren war er so am Ende, daß er sich entschloß, mit dem Leben Schluß zu machen. Doch er wollte vorher noch einmal seine Eltern sehen. Spät in der Nacht klingelt er an der Tür. Der Vater schaut zum Fenster hinaus. Als er ihn erkennt (der junge Mann war bis auf die Knochen abgemagert und seine klebrigen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht), schlägt der Vater wortlos das Fenster zu. Keine Chance!
Der junge Mann geht von dannen und läuft zum Bahngeleise, das auf einer Böschung an seinem Dorf vorbeiführt. Für ihn gibt es nur noch eines: Schluß mit einem solchen Leben! Er steigt die Böschung hinauf. Da umgibt ihn plötzlich ein helles Licht. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Dann spricht eine Stimme zu ihm:“Wenn dich auch Vater und Mutter verlassen, ich nehme dich auf" (vgl Ps 27,10) Dann geht die Erscheinung.
Aber in dem jungen Mann brennt eine Sonne. Die Freude, die ihn erfüllt, bringt ihn fast um. Er rennt davon, er rennt über eine Stunde lang wie ein Verrückter quer über die Felder. Die Freude und das Glück haben ihn fast umgebracht...
Als ich diesem jungen Mann später einmal das Bild vom Barmherzigen Jesus gab, wurde er ganz still und sagte dann nach längerem Schweigen: “Er war es, der zu mir gesprochen hat."
Die Botschaft in die Welt hineintragen: “Er war es, der zu mir gesprochen hat..." Und Er möchte noch zu vielen, vielen Menschen sprechen, besonders zu den Jungen. Wie sie auf Ihn warten! Er allein kennt ihre Abgründe, in denen sie gefangen sind. Er allein weiß zu ihnen zu sprechen, ohne in ihnen Widerstand und Abneigung hervorzurufen.
“Die größten Sünder haben ein ganz besonderes Anrecht auf meine Barmherzigkeit. Ich freue mich, wenn sie ihre Zuflucht nehmen zu meiner Barmherzigkeit." Diese Botschaft haben wir heute in alle Welt hineinzutragen, überallhin, wo es Menschen gibt. Wir werden überraschend viele offene Türen finden!
Als ich unlängst im Zug von Zürich nach Genf im McDonalds-Speisewagen an der Sitzbar neben zwei jungen adretten Frauen saß, die bei einer Tasse Kaffee die “Freuden und Leiden einer Sekretärin" austauschten, nahm eine der beiden Damen ihr Portemonnaie aus der Tasche und sagte zur anderen: Willst du einmal das Foto meines Freundes sehen? Sie zog ein Bildchen heraus, schob es ihr hin und sagte: Das ist er. Es war ein Bildchen vom Barmherzigen Jesus...
PS: Darf ich jene Leser bitten, die besondere Erfahrungen mit dem Apostolat dieser Botschaft gemacht haben, mir das (schriftlich) mitzuteilen?
Urs Keusch, Feldheimstr. 21, CH-6260 Reiden
Der Autor ist emeritierter Pfarrer.