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Mutter zu sein, lernen Frauen von ihrem Baby

Artikel drucken Mit viel Liebe lernen selbst taube Babys reden

Sie haben in der Nachkriegszeit mit Ihren Forschungen über den Einfluß der Erziehung auf das Verhalten der Kleinkinder begonnen. Was haben Sie damals Auffallendes beobachtet?

Theodor Hellbrügge: Als Assistenzarzt der Universitätskinderklinik in München hatte ich eine Mütterberatung zu betreuen. Dort erschienen eines Tages fünf oder sechs Kleinkinder, auffallend hübsch, groß, blond. Nach rein ärztlichen Gesichtspunkten fehlte ihnen nichts. Dennoch stellten sie sich in einem erbarmungswürdigen Zustand dar.

Inwiefern?

Hellbrügge: Sie sprachen noch kein Wort, hatten einen ängstlichen Gesichtsausdruck, näherte man sich ihnen, schrien sie vor Angst, waren unfähig, mit dem Löffel zu essen. Man hatte fast den Eindruck, sie seien idiotisch. Aber das waren sie nicht, denn sie schlugen aufeinander ein, wenn sie Kontakt aufnahmen. Da habe ich bald gemerkt, daß ich mit den klassischen anatomischen und physiologischen Methoden, dieses Krankheitsbild nicht diagnostizieren konnte.

Was war der Hintergrund dieses Erscheinungsbildes?

Hellbrügge: Daß es sich um Kinder handelte, die im Rahmen von Hitlers Rassenzuchtprogramm großgezogen worden waren. Ich suchte daraufhin nach Wegen zu objektivieren, was dabei geschehen war. Damit habe ich in die internationale Kinderheilkunde die Ethologie, die Lehre vom Verhalten, als weiteres Kriterium eingeführt.

Was hat dieser Zugang für die Kinderheilkunde gebracht?

Hellbrügge: Wir haben herausgefunden, daß jede Kollektiverziehung - und sie beginnt streng genommen bei Zwillingen - die Sozial- und Sprachentwicklung negativ beeinflußt. Je häufiger der Wechsel einer mütterlichen Bezugsperson, je häufiger der Wechsel des Milieus ohne Rückhalt einer Hauptbezugsperson, umso schlechter die Sprachentwicklung. Noch nachteiliger sind solche Konstellationen für die Sozialentwicklung, also die Entwicklung zur Selbständigkeit und zur Kontaktfähigkeit. Wir haben 1.500 Neugeborene bis zum vierten Lebensjahr untersucht und auf folgende Merkmale geachtet: Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen, Perzeption, Spielen, Sprechen, Sprache verstehen...

Welche Faktoren sind für die Sprach- und Sozialentwicklung von besonderer Bedeutung?

Hellbrügge: Die entscheidende Größe ist die konstante, mütterliche Hauptbezugsperson. Keine Mutter wird schon bei der Geburt zur Mutter. Die Mütterlichkeit entwickelt sich erst in der Kommunikation mit dem Säugling. Und sie steigert sich auch in dieser Beziehung. Die maßgeblichen Reize für die Mütterlichkeit gehen vom Kind aus. Die Mutter stellt sich intuitiv, also ohne irgendeine Schulung, auf dieses Kind so ein, daß sie zu dessen Mutter wird. In den letzten Jahren konnten wir das noch genauer durch ein einfaches Verfahren erfassen. Dabei haben wir das Videosystem eingesetzt. Ein Apparat nimmt das Gesicht der Mutter, der andere das des Kindes auf, wenn sie miteinander plaudern oder kuscheln. Beide Aufnahmen werden gleichzeitig auf einen Monitor gespielt. Dann erkennt man genau, ob die Kommunikation zwischen Mutter und Kind positiv ist oder nicht.

Und was kommt da heraus?

Man muß die Mutter in Ruhe lassen, damit sie intuitiv auf die vom Kind ausgesandten Zeichen eingeht. “Nimm dieses Kind, so wie es ist, und hab' es lieb!" Wenn sie so an ihre Aufgabe herangeht, wächst alles andere von selbst.

Senden denn schon Säuglinge Signale aus?

Hellbrügge: Sofort. Sie sind erstens der Grund für das Entstehen der Muttersprache. Durch die Bildschirmdiagnostik stellte sich heraus, daß im optimalen Fall der Säugling auf sein Brabbeln innerhalb von 0,2 Sekunden eine Antwort bekommen muß. Und diese Antwort findet intuitiv so statt, daß die Mutter ihre Stimme um eine Oktav hebt und das Gleiche antwortet. Dieser Dialog ist die Basis unserer Muttersprache. Wir wissen aus Untersuchungen bei gehörlosen Kindern, bei denen das nicht oder nicht optimal stattfindet, daß sie mit sechs Monaten verstummen. Jede Diagnostik einer Gehörstörung nach dem sechsten Monat kommt eigentlich zu spät.

Kann man etwas dagegen tun?

Hellbrügge: Ich versuche durch ein neues Verfahren der Früherkennung solche Gehörstörungen schon bei der Geburt festzustellen. Dazu wurde ein Gerät entwickelt, das von jeder Krankenschwester bedient werden kann.

Wie lassen sich Gehörstörungen so früh erfassen?

Hellbrügge: Dieses Verfahren beruht auf Echolot. Jedes Geräusch hinterläßt in unserem Gehörgang ein Echo. Dieses nimmt der Apparat auf, setzt es über einen kleinen Computer um und gibt als Auskunft: Hört - oder hört nicht genau.

Was nützt die Früherkennung?Kann man tauben Kindern das Sprechen beibringen?

Man muß die Mutter darauf aufmerksam machen, daß ihr Kind besonders viel Liebe braucht. Man wird ihr sagen: “Wenn Sie stillen, dann streicheln sie es mit besonderer Zärtlichkeit." Dann spürt das Kleine über die Haut, daß hier etwas ist, was es über die Sprache nicht erleben kann. Und wenn das Kind die Mutter anschaut, wird diese es anlachen und mit ihm sprechen. Dann wird das Kind lernen, die mimischen Veränderungen mit all dem zu verbinden, was beim Füttern, Wickeln, beim Liebhaben geschieht. Und aus dieser Kombination von Erleben der Mimik und den liebevollen körperlichen Erfahrungen entwickelt sich das Sprachvermögen.

Ohne daß das Kind hört?

Hellbrügge: Ich habe Jugendliche, die taub sind und ebenso normal sprechen wie andere.

Aus körperlichen Erfahrungen soll sich das Sprachvermögen eines tauben Kindes bilden?

Hellbrügge: Ja aus diesen Erfahrungen und den Veränderungen der Mimik des Sprechenden. Jedes Wort erzeugt ja eine gewisse mimische Veränderung im Gesichtsbereich. Und da jeder Säugling mit einer angeborenen Faszination für ein menschliches Gesicht zur Welt kommt, lernt er bald, das, was er als vordergründig und zutiefst erlebt, umzusetzen mit dem, was in der Umgebung passiert. Aber ich weiß nicht wie das geschieht. Darüber gibt es bisher keine Forschungen. Aber es geschieht.

Daß die umfassende Förderung des Kindes solche Hindernisse überwinden kann, müßte eigentlich alle Mütter auf die Bedeutung ihrer Zuwendung aufmerksam machen...

Hellbrügge: Die Mütter haben diese Erkenntnis, seit eh und je. Wir müssen lernen, sie zu beachten. Ich habe im Kinderzentrum einen Spruch hängen, der lautet: Die Mutter hat immer recht. So gesehen ist das Wort Muttersprache absolut berechtigt. Sie ist es, die uns zum denken bringt. Ohne Sprache gibt es kein Denken. Meist meint man: Erst denken wir und dann erst sprechen wir. Aber es ist umgekehrt. Nur beachten wir das in unserer Kulturförderung leider nicht ausreichend. Wir geben für Universitäten und Schulen Unsummen aus, aber die eigentlichen Kulturträger, die Mütter, denen lassen wir nicht genügend Zeit, daß sie sich mit ihren Kindern beschäftigen. Wenn wir wissen, daß an diesen 0,2 Sekunden, in der das Baby sein Signal beantwortet haben muß, letztlich die gesamte Sprachförderung hängt, dann kann ich das nicht unbeachtet lassen. Dann ist das Konzept der außerhäuslichen Berufstätigkeit eben falsch. Zwei Stunden am Abend und in der Früh reichen nun einmal nicht.

Können Sie das belegen?

Das Sprachvermögen der Kinder in kollektiver Erziehung hängt deutlich nach, gegenüber Kindern, die mit der Mutter zu Hause aufwachsen. Das zeigen alle Untersuchungen, auch international.

Ihre Schlußfolgerungen aus diesen Erkenntnissen?

Hellbrügge: Wenn wir das Geld, das wir derzeit für Krippen und sonstige Tagesbetreuungsstätten investieren, den Müttern gäben, wären die gleichen Kinder nicht nur besser aufgehoben, sondern sie würden Kulturträger statt Sozialhilfeempfänger werden. Die Sozialentwicklung prägt eben das spätere Leben. Daher zwei Forderungen: Es geht darum, die häusliche Arbeit aufzuwerten. Ein Großteil unseres Volksvermögens wird in unseren Haushalten erhalten - und wir mißachten die Arbeit, die in unseren Wohnungen und Häusern passiert. Und zweitens ist die kulturell außergewöhnlich wichtige Leistung der Mütter ebenso zu honorieren wie die außerhäusliche Tätigkeit der Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen.

Professor Dr. Theodor Hellbrügge ist Gründer des “Kinderzentrums München", das Vorbild für weitere 80 sozialpädiatrische Zentren in Deutschland und 50 im Ausland wurde. Mit ihm sprachen Alexa und Christof Gaspari.

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