Bei vielen Christen gibt es so etwas wie eine innere Blockade, wenn es um Maria geht. Sie empfinden vielleicht beim Anblick von Gläubigen, die den Rosenkranz beten oder eine Kerze vor einem Marienbild anzünden, sogar ähnliches wie ich, wenn ich einen Hinduisten sehe, der einer Statue der sechsarmigen Göttin Shiva ein Weihrauchopfer darbringt! Ist der Kult um Maria eine katholische Form von Götzendienst?
Wenn Maria aber heute für viele Christen so “peinlich" ist und noch dazu die Ökumene behindert, stellt sich doch die Frage: Wieso läßt die katholische Kirche nicht von Maria ab? Könnte die Kirche nicht einfach die, die Jesus geboren hat, behandeln wie jede x-beliebige andere Frau?
Bevor wir diese Frage beantworten, eine Beobachtung: Irgendwie scheint es zwecklos zu sein, jenen, die sich gegen eine Sympathie für die Gottesmutter entschieden haben, mit Argumenten zu kommen. Bei bestimmten kirchlichen Themen entscheidet heute oft nur mehr das Gefühl, das Belieben. Über Glaubensthemen wird oft “aus dem Bauch heraus" geredet: Das gefällt mir, darum lasse ich es gelten, das nicht, daher sollte der Papst es ändern. So kann es natürlich bei den letzten Wahrheiten der Offenbarung nicht sein.
Bei der Marienverehrung sind es oft Äußerlichkeiten, die emotional abstoßen (oder anziehen): süße Bilder, Marienerscheinungen, der Rummel an den Wallfahrtsorten.
Von diesen Emotionen muß man sich frei machen, wenn man nach Maria fragt. Die beste Basis für einen Zugang mit Herz und Hirn zu Maria ist das 2. Vatikanische Konzil, das eine nüchterne und doch tragfähige Darstellung der Bedeutung Mariens geben wollte. Das Thema “Maria" wurde auf dem Konzil nicht wie vorgesehen in einem separaten Dokument behandelt, sondern in die Dogmatische Konstitution über die Kirche “Lumen Gentium" als deren 8. Kapitel eingefügt.
Die Kapitelüberschrift gibt das Programm an: “Die selige Gottesmutter im Geheimnis Christi und der Kirche" (Artikel 52-69). Die Aussageabsicht ist: Maria hat eine tragende Rolle im Heilsgeheimnis Christi und der Kirche, darum ist sie für die Christen wichtig, nicht, weil sie eine Art isoliertes fabelhaftes Einzelwesen ist.
Wenn jemand eine Antwort auf die Frage sucht: Warum Maria?, dann können wir ihm zwei Gründe nennen:
1. Der erste Grund ist das, was die Bibel von Maria schildert. Maria ist ja keine Erfindung der Kirche, keine literarische Phantasiefigur, die sich besonders fromme Päpste ausgedacht hätten. Maria hat ihre Bedeutung einzig aus dem, wozu Gott sie erdacht und berufen hat: Im Drama der Heilsgeschichte erste Mitarbeiterin der Menschwerdung Gottes zu sein. Die Kirche nimmt nur an, was Gott ihr in der Offenbarung vorgibt, daher geht das 2. Vatikanische Konzil in seiner Marienlehre ganz von der Bibel aus.
Die Heilige Schrift erzählt ja über Maria sehr viel: Gott erwählt souverän diese jüdische Jungfrau aus Nazareth, da sie die Mutter des Messias Jesus sein soll. Gott fordert ihre Mitarbeit ein, und sie, der gottoffene Mensch, erklärt sich dazu bereit.
Schon die Tatsache, daß Maria “erschrickt" bezeugt, daß sie sich nicht in diese Rolle gedrängt hat. Doch ihre Aufgabe gegenüber ihrem Sohn beschränkt sie keineswegs auf eine Art Leihmutterschaft. Die Jungfrau Maria aus Nazareth ist Mutter mit Leib und Seele. Daher endet ihre Verbundenheit mit Jesus nicht einmal unter dem Kreuz, sondern geht von dort weg und erst recht nach Seiner Auferstehung in eine neue Mutterschaft über: in eine geistige Mutterschaft gegenüber all jenen, die an Christus glauben.
Warum Maria? Von dem biblisch-evangelischen Hintergrund ergibt sich die Antwort: Weil Gott es so wollte, Er hat Maria erwählt. Die Kirche kann nicht wegstreichen, was offensichtlich ein wichtiges Element im Plan Gottes ist.
Wir müssen es Gott überlassen, wenn er gleichsam anhand der Jungfrau aus Nazareth exemplarisch die Bedeutung des gläubigen Menschen für seinen Erlösungsplan darstellen wollte. Maria bekommt von Gott die Funktion zugewiesen, das Beispiel schlechthin zu sein.
2. Und hier sind wir bei dem zweiten Grund, warum der christliche Glaube Maria braucht. Gott wollte in der Person Mariens wichtige abstrakte Glaubensinhalte veranschaulichen und verdeutlichen. Anders ausgedrückt: Wo es in der Glaubenslehre oft vordergründig um Maria geht, geht es immer um weit mehr: um Christus, um Erlösung, um Gnade, um das letzte Heil des Menschen.
Gott bündelt in dem Menschen Maria die unsichtbaren Strahlen Seiner Offenbarung und bringt sie strahlend zum Leuchten. Anhand der vier Privilegien Mariens - Gottesmutter, Jungfrau, unbefleckt empfangen und leiblich in den Himmel aufgenommen - kann diese größere Bedeutung Mariens für den christlichen Glauben gut dargestellt werden.
* Der erste Glaubenssatz, daß Maria wahrhaft Gottesmutter (Theotokos) sei, verteidigt die Person Christi. Dieses älteste mariologische Dogma ist im Kern ein Christusdogma, es geht um Christus. Anfang des 5. Jahrhunderts irrte Nestorius in der Auffassung der Person Christi, und lehnte deshalb den Titel “Gottesgebärerin" für Maria ab. Sie habe nur den menschlichen Teil von Christus geboren. Das Konzil von Ephesus 431 entgegnete Nestorius: Maria hat nicht nur die menschliche Hälfte ihres Sohnes geboren, sondern den ganzen Gottmenschen, daher darf sie auch wirklich Muttergottes genannt werden. Der Titel Gottesmutter besagt also die Wahrheit, daß in Christus Menschheit und Gottheit untrennbar vereint sind!
Auch der zweite Glaubenssatz von der Jungfrauengeburt, den bereits die Evangelisten Lukas und Matthäus klar herausstellten, bezieht sich zuerst auf Christus und erst an zweiter Stelle auf das Sein Mariens als Jungfrau. Warum hat die Kirche die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens von Urzeiten an so vehement verteidigt? Justinus (ca. 165) etwa gegen die Polemik jüdischer Kreise, Origenes ( ca. 253) gegen den ungläubigen Spott der griechischen Philosophen?
Es ging den frühen Kirchenvätern nicht nur darum, die Würde der Gottesmutter zu schützen, sondern um Wesentlicheres. Die Evangelien erzählen, daß Maria biologisch Jungfrau war. Mythos? Das Bekenntnis zur immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens sichert das konkrete Verständnis von der Gottessohnschaft Christi: Christus ist nicht bloß dem Namen nach oder der theologischen Theorie nach Sohn Gottes, sondern sogar biologisch wunderbar aus Gottes Geist und dem Menschen Maria geworden.
Neben diesem christologischen Aspekt gibt es noch einen spirituellen: Maria empfängt jungfräulich, sie kommt - wie die Jungfrau zum Kind. Das besagt doch etwas wichtiges über Gott: Gott schenkt nämlich Sein Heil auch wider und jenseits menschlichen Haben- und Erzwingenwollens. Gott schenkt sich dort, wo der Mensch in der Haltung reinen Empfangens sich für Gott öffnet.
* Schließlich geht es auch im dritten Glaubenssatz vom unbefleckt Empfangenseins Mariens, den Pius IX. nach jahrhundertelangen theologischen Diskussionen 1854 für verbindlich erklärte, gar nicht allein um Maria. Maria wird vom ersten Augenblick ihres Daseins an von der Erbsünde bewahrt: Die “Immaculata Conceptio" zeigt die Größe der Schöpfungsgnade Gottes.
Sie zeigt den Menschen in seiner ursprünglichen von Gott geplanten Gestalt: Sie zeigt das ursprüngliche Konzept, das Gott vom Menschen hatte, zugleich aber auch den eklatanten Widerspruch zwischen diesem Entwurf Gottes und der Verzerrung, welche die Sünde brachte. (Immaculata und Satan gehören daher in den bildlichen Darstellungen immer zusammen, denn die Immaculata ist Offenlegung des Widerspruchs, der zwischen Gott und Welt, Heiligkeit und Sünde liegt; sie sind zwei Seiten einer theologischen Münze.)
* Bleibt der vierte Glaubenssatz von der ganzmenschlichen Aufnahme Mariens in den Himmel: Auch dieses erst 1950 von Pius XII. definierte Dogma sichert eine größere, allgemeine Glaubenswahrheit, nämlich den vollen Umfang der eschatologischen Hoffnung. Auch hier ist das “Privileg" der leiblichen Vollendung Mariens von universaler Bedeutung für die Hoffnung, die alle Christen erfüllen soll. Was beispielhaft in Maria geschehen ist, wird einst allen zuteil.
Mag sein, daß man sich mit der Verehrung Mariens schwertut, aber die Bedeutung, die Gott Maria in Seinem Heilsplan geben wollte, kann man schwer bestreiten. Martin Luther etwa hat alle die vier genannten Glaubenssätze bejaht.
Warum Maria? Weil, wie das 2. Vatikanische Konzil so klar lehrt, Gott in Maria gleichsam alle Gnade und alles Heil wie in einem Brennglas zusammenfassen wollte. Maria wirkt mit an eben jenem Heil, das Gott uns durch den “einzigen Mittler Jesus Christus" (1 Tim 2,5) schenken wollte. Maria ist um dieses in Christus geschenkten Heiles willen für unseren Glauben unverzichtbar.
Der Autor ist Dekan der theologischen Fakultät in Heiligenkreuz.
Neue Zuwendung zu Maria
Daß es ganz unerwartete Aufbrüche und eine weltweite marianische Bewegung gibt, das ist gar kein Zweifel. Sicherlich sind darunter auch manche Formen von Pseudo-Erscheinungen und Botschaften. Da sollte man also sehr vorsichtig sein und sich nicht leichtgläubig gleich das Übernatürliche am Werk vorstellen.
Aber umgekehrt darf einen diese echte und richtige kritische Gesinnung auch wieder nicht undurchdringlich machen für die Realität, die es gibt. Man konnte anfänglich ja auch gegenüber Lourdes denken, da habe sich dieses kleine Mädchen etwas zusammenphantasiert. Und dann hat sich eben doch gezeigt, daß wirklich sie selbst da war, die Mutter - Maria. Es ist sicher kein Zufall, daß heute eine große neue Zuwendung zu Maria erfolgt, in der uns das Christentum wieder liebenswürdig und nahe wird, und wir durch die Mutter wirklich wieder die Tür finden.
Was wir über Südamerika gesagt haben, wo Guadalupe zum Durchbruch wurde, daß die Indios sehen konnten, dies ist nicht die Religion der Eroberer, sondern die Religion der gütigen Mutter und des für uns leidenden Gottes - und Maria wirklich die Tür zu Christus geworden ist -, das gilt auch heute. Auch heute kann es weit über Südamerika hinaus einem müde gewordenen und rationalistischen Christentum - und einer von einer kalten technischen Welt erschöpften Menschheit - wieder so gehen, daß es gerade im Zeichen der Mutter wieder lebendig Christus selber findet.
Kardinal Joseph Ratzinger
Aus “Gott und die Welt" von Peter Seewald, DVA